Die Türkei kann nicht ohne Amerika und Europa auskommen, und Erdogan weiß das besser als jeder andere

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In vielen europäischen Hauptstädten herrschte die stille Hoffnung, dass Kemal Kiliçdaroglu (Mitte) die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde.Bild Bülent Kilic / AFP

Auch Europa wird sich damit abfinden müssen: Eine Wachablösung in der Türkei wird es nicht geben. Präsident Recep Tayyip Erdogan wurde am Sonntag wiedergewählt, sodass auch in den nächsten fünf Jahren mit ihm Geschäfte gemacht werden müssen, auch wenn viele europäische Hauptstädte die stille Hoffnung hegten, dass Kemal Kiliçdaroglu die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde.

Diese verliefen nicht nach Plan, kommt die Beobachtermission von OSZE und Europarat zu dem Schluss. Die offiziellen Aufgaben des Präsidentenamtes und staatliche Gelder wurden für Wahlkämpfe missbraucht. Wenn man dazu noch die Voreingenommenheit der Medien und die Einschüchterung insbesondere der Anhänger der kurdischen Partei HDP hinzufügt, ergeben sich Umstände, unter denen demokratische Wahlen nicht wirklich möglich sind.

Doch was sollen ausländische Regierungen mit einer solchen Beobachtung anfangen? Auch die türkische Opposition hat das Wahlergebnis akzeptiert und die Wahl selbst scheint ohne großen Betrug stattgefunden zu haben. Erdogan ist und bleibt Präsident, das lässt sich nicht wegwünschen.

Über den Autor
Rob Vreeken ist Türkei- und Iran-Korrespondent für de Volkskrant. Er lebt in Istanbul. Zuvor war er im Außenministerium tätig, wo er sich auf Menschenrechte, Südasien und den Nahen Osten spezialisierte. Er ist Autor von Ein heidnischer Job – Erdogan und die gescheiterte Islamisierung der Türkei.

Deshalb strömten am Montagmorgen Glückwünsche aus allen Teilen der Welt nach Ankara. US-Präsident Joe Biden sagte, er freue sich darauf, „unsere Arbeit als NATO-Verbündete in bilateralen Fragen und gemeinsamen globalen Herausforderungen fortzusetzen“. Auch die EU-Chefs Charles Michel und Ursula von der Leyen gratulierten Erdogan. „Ich freue mich darauf, die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei weiter auszubauen“, sagte von der Leyen.

Herzlichen Glückwunsch Putin

Auch aus Moskau kamen herzliche Worte. Präsident Wladimir Putin gratulierte „meinem guten Freund“ Tayyip Erdogan. Der russische Staatschef lobte seinen türkischen Amtskollegen für dessen „Bemühungen, die Souveränität der Staaten zu stärken und eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben“.

Mit diesen Worten machte Putin den Nato-Verbündeten Erdogans einmal mehr klar: Der türkische Präsident kann notfalls auch ohne Sie auskommen. Erdogan selbst benutzt manchmal die Russen, um zu zeigen, dass er Amerika und Europa nicht unbedingt braucht.

Sein Problem: Jeder weiß, dass das nicht stimmt, auch die Russen und die Türken selbst. Auf Europa entfallen fast die Hälfte ihres Handels und drei Viertel der Auslandsinvestitionen. Sie erkennen, dass ihre Sicherheit letztlich durch die NATO-Charta garantiert wird und nicht durch den geopolitischen Zynismus des Kremls. Die Türkei kann sich nicht über die Gesetze der Schwerkraft hinwegsetzen, die sie immer wieder in die westliche Einflusssphäre zurückziehen.

Dennoch bleibt insbesondere das Verhältnis zwischen der Türkei und Europa schwierig. Formal wird weiterhin eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU angestrebt, darüber gibt es jedoch keine Gespräche mehr. Die Verletzung verfassungsmäßiger Freiheiten in der Türkei dämpft weiterhin die europäische Liebe zu Ankara.

Türkei-Deal

Die heikelste Angelegenheit ist das Abkommen zwischen der Türkei und der EU aus dem Jahr 2016. Es bleibt vorerst stehen. Die Türkei kann die europäischen Milliarden gut gebrauchen und „die Tore nach Europa zu öffnen“ ist jetzt kein Thema. Allerdings wächst der Druck auf die Erdogan-Regierung, sich für die Rückführung von Flüchtlingen nach Syrien einzusetzen. Der Wahlkampf von Kiliçdaroglu hat die fremdenfeindliche Stimmung in der türkischen Bevölkerung weiter angeheizt. Der EU-Türkei-Deal könnte scheitern, wenn der Druck zu groß ist.

Insofern hat Europa Grund zur Erleichterung über die Niederlage von Kiliçdaroglu. Sein vehementes Versprechen an die Wähler, alle syrischen Flüchtlinge innerhalb von zwei Jahren zurückzuschicken (in der letzten Wahlkampfwoche sogar auf ein Jahr verkürzt), war mit dem Türkei-Deal schwer zu vereinbaren.

Kiliçdaroglu machte in keiner Weise klar, wie er eine humanitäre Rückkehr nach Syrien gewährleisten wollte. Durch Geschäfte mit Assad? Angesichts der Aussicht, erneut unter die Herrschaft seines Regimes zu geraten, denken viele Syrer vielleicht: Nehmen Sie lieber ein Boot nach Europa.



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