Premierminister Rutte präsentierte sich bei den vergangenen Wahlen als Staatsmann mit Stabilitätsgarantie. Jetzt riskiert er das Überleben von Rutte IV, um eine strengere Asylpolitik durchzusetzen. Denn der VVD hat bei Wahlen innerhalb der Koalition am wenigsten zu befürchten.
Der Mann, der es jahrelang geschafft hat, jeden Innenbrand zu löschen, setzt nun selbst seinen Schrank in Brand. Premierminister Mark Rutte spielte in den letzten Tagen ein großes Spiel, als er forderte, dass Asylbewerber von nun an weniger Chancen auf Familienzusammenführung haben sollten, obwohl er wusste, dass sein Koalitionspartner ChristenUnie das nicht verdauen konnte.
Die plötzliche Eskalation passt zu einer Strategie, mit der der VVD seit Monaten die Spannungen rund um die Asyl- und Einwanderungsakte verschärft. Im November wurde der Ministerpräsident unter großem Getöse in die einst schüchterne VVD-Partei zitiert, um die schwächelnde Asylpolitik zu erläutern. Die Bedeutung dieses Ereignisses sollte niemandem entgehen. Rutte musste in einem Glasraum Platz nehmen, wo Fotografen und Kamerateams aufzeichnen konnten, wie der große Mann der VVD wie ein Schuljunge warten musste, bis die Fraktion Zeit für ihn hatte.
Politisches Theater
Es war eine Form des politischen Theaters, das schon damals Fragen aufwarf. Warum machte der VVD auf seine eigene Achillesferse aufmerksam: die Asyl- und Einwanderungspolitik? In einer Koalition mit ChristenUnie und D66 war die Chance auf einen großen Durchbruch mit vielen strengen Maßnahmen gering. Dies zeigte sich bereits in der vorangegangenen Kabinettsperiode, als die VVD zähneknirschend einer neuen Kinderbegnadigung zustimmen musste.
Dennoch hat der VVD den Druck zuletzt weiter erhöht. Rutte war schon immer ein Meister darin, sich Zeit zu verschaffen, doch nun legten die Liberalen eine Frist fest. Dies geschah während einer Konferenz, bei der der Premierminister mitten im Raum Platz nahm und von seinen Anhängern demonstrativ wegen des hohen Zustroms von Asylbewerbern ausgepeitscht wurde. Seine treue Begleiterin Sophie Hermans verlangte, dass noch vor dem Sommer ein Paket fertig sei. „Mark, beeil dich.“
Die Botschaft an die Außenwelt war unübersehbar: Rutte stand unter großem Druck seines VVD-Kaders, die Asylpolitik zu verschärfen. Auch die Koalitionspartner mussten sich dessen bewusst werden. Es ist kein Zufall, dass über anonyme VVD-Quellen kaum verhüllte Drohungen durchsickern: Sollten Neuwahlen unerwartet kommen, ist Rutte bereit, noch einmal zu zeigen, wer der beste Wahlkämpfer in den Niederlanden ist.
Bewusste Eskalation
Doch kaum jemand in Den Haag nahm die Drohsignale des VVD ganz ernst. Rutte verteilt seit siebzehn Jahren innerhalb der Partei die Blätter. Am Ende bringt er die murrenden VVD-Mitglieder immer wieder in die Reihe; das Gleiche gilt auch für die Fraktion.
Der VVD strebte eine bessere Verhandlungsposition an, man ging jedoch davon aus, dass er sich letztendlich für einen Kompromiss entscheiden würde, um die Koalition am Leben zu halten. Das ist inzwischen zum Ruf der größten Regierungspartei geworden: ein Kamel, das immer in die Knie geht.
Diese Woche kamen plötzlich die Zweifel. Rutte – der Mann, der immer weiß, wie man alles richtig macht – weigerte sich, zu deeskalieren. Andererseits. Ein Paket für eine strengere Asylpolitik müsse es schon diese Woche geben, nicht später. Es wurden auch harte Forderungen laut, die Familienzusammenführung von Asylbewerbern weiter einzuschränken, obwohl klar war, dass D66 und ChristenUnie damit Schwierigkeiten hatten.
Die anderen Koalitionsparteien waren schockiert. War der VVD wirklich bereit, Rutte IV in die Luft zu jagen, wenn es nicht zu einer strengeren Asylpolitik kommt?
Verletzliche Rivalen
Für einen amtierenden Regierungschef wäre es ein riskantes Unterfangen, aber es war nicht undenkbar. Die Frage ist, ob sich eine Neuinvestition in Rutte IV für die Liberalen auszahlen wird. Der VVD kann der Asylpolitik nun erneut Wasser hinzufügen, aber es besteht immer noch die Möglichkeit, dass das marode Kabinett danach stürzt. Seit den Provinzwahlen erweist sich vor allem die CDA als unberechenbarer Partner, deren Mitglieder offen über das Ende von Rutte IV spekulieren.
Es ist auch klar, dass die VVD eine relativ starke Position haben wird, wenn die Regierung jetzt stürzt. Wenn Rutte den Erwartungen standhält, kann er sich im Wahlkampf als Mann präsentieren, der bereit ist, bis zum bitteren Ende für eine strengere Asylpolitik zu kämpfen. Er hat dafür nicht nur sein Kabinett geopfert, sondern ist als erfahrener Führer auf der Weltbühne auch der Politiker schlechthin, der in Zukunft internationale Einwanderungsabkommen durchsetzen kann.
Auch den Rest des politischen Schlachtfeldes wird die VVD mit einiger Beruhigung betrachten. Viele potenzielle Konkurrenten scheinen verwundbar zu sein. Innerhalb der CDA herrscht wenig Vertrauen in Wopke Hoekstra. Bei D66 gibt es ernsthafte Zweifel, ob Sigrid Kaag wieder Parteichefin bleiben will. Pieter Omtzigt hat noch keine eigene Partei. PvdA und GroenLinks haben noch keinen Listenführer. BBB kann ein ernstzunehmender Konkurrent werden, aber hat die Partei einen Premierministerkandidaten? Parteichefin Caroline van der Plas selbst scheint von dieser Position nicht begeistert zu sein.
Albtraumszenario
Es wird sicherlich VVD-Mitglieder geben, die einen Schritt ins Ungewisse wagen wollen, auch weil sich mit BBB plötzlich ein neuer Weg auf der rechten Seite eröffnet hat. Das Problem ist, dass Van der Plas darauf beharrt, dass sie nicht in einem Kabinett mit Rutte als Premierminister sein will.
Für die nachdenklicheren VVD-Mitglieder wird dies nicht die einzige Sorge über ein mögliches Ende von Rutte IV sein. Der Premierminister wird seinen Ruf als Leuchtturm politischer Stabilität verlieren, wenn die Regierung stürzt. Darüber hinaus hat er selbst kürzlich darauf hingewiesen, dass in Europa Krieg herrscht. Kann es sich ein Staatsmann unter diesen Umständen leisten, eine Kabinettskrise auszulösen?
Darüber hinaus bleibt der Ausgang eines neuen Wahlkampfs trotz der relativ günstigen Umstände für den VVD ungewiss. Ein Albtraumszenario ist, dass die VVD nun das Kabinett sprengt, aber nach den Wahlen erneut dazu verdammt ist, mit D66 und ChristenUnie oder mit der Linken zu kooperieren, die noch weniger bereit ist, eine strenge Asylpolitik einzuführen.
Dies wird einer der Gründe dafür sein, dass die Gespräche über die Asylpolitik am Freitag fortgesetzt werden und Premierminister Rutte sich Insidern zufolge sogar für sein Machtspiel in den letzten Tagen entschuldigt hat. Rutte IV ist nicht ideal. Aber der VVD hat keine Garantie dafür, dass das nächste Kabinett besser sein wird.