Die Linke steht am Rande des Todes: „Ohne uns würde Deutschland einen gewaltigen Ruck nach rechts machen“

Die Linke steht am Rande des Todes „Ohne uns wuerde


Eine Abstimmung während des Parteitags Die Linke am 25. Juni.Bild ANP / Bild Stock & People GmbH

Gerade als der Linken-Abgeordnete Sören Pellmann (45) sein x-tes Interview beendet hat, versperren ihm zwei Männer auf einem Rollerfahrrad den Weg und geben ein Rätsel auf. Der Mann in der Rollstuhlabteilung vor dem Fahrrad hält ein Protestschild, der Mann auf dem Sattel hinter ihm stellt die Frage. „Herr Sören, eine angepasste Wohnung hat ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Badezimmer und eine Küche. Was fehlt da?‘

Der hochgewachsene Pellmann überlegt einen Moment, beugt sich vor und blickt über seine dicke Brille hinweg: „Das wirst du mir sicher sagen.“ Ein Balkon, ist die Antwort, gefolgt von einem Plädoyer für eine bessere nationale Gesetzgebung für angepasste Wohnungen. Pellmann hört geduldig zu. Die Linke ist für die Schwächeren in der Gesellschaft da, und Die Linke ist immer erreichbar. So auch auf ihrem Parteitag an diesem Sommersamstag in Erfurt, im Herzen Deutschlands, wo Die Linke nach einem Ausweg aus der tiefsten Krise seit ihrem Bestehen sucht.

Deutschlands politischer Linker droht zu verschwinden. Bei den nationalen Wahlen 2021 verlor die Partei die Hälfte ihrer Sitze und schloss mit 4,9 Prozent der Stimmen knapp unter der Wahlhürde ab. Dank einer Hintertür im deutschen Wahlsystem konnten sie noch rechtzeitig im Parlament bleiben. Seitdem wurde Die Linke bei drei Landtagswahlen dramatisch niedergemetzelt. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wurde die Partie mehr als halbiert. Im Saarland fiel Die Linke von 13 auf 2 Prozent und flog sofort aus dem Parlament.

Wie sind wir hierher gekommen, und wie kommen wir wieder an die Spitze? Das ist die allumfassende Frage. Doch unter diesen Hauptfragen hängt eine schier endlose Liste von Teilfragen, die zeigen, dass Die Linke nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit einem sich rasant verändernden Deutschland ringt.

Sind wir in erster Linie für Arbeiter da, die von hohen Benzinpreisen betroffen sind, oder für junge Menschen, die sich uns im Kampf gegen den Klimawandel angeschlossen haben? Kämpfen wir gegen den Kapitalismus oder kämpfen wir für die Interessen unserer Unterstützer innerhalb dieses Systems? Wo stehen Feminismus und LGBTI-Rechte auf unserer Prioritätenliste? Was zum Teufel sollen wir als Deutschlands prorussischste Partei mit dem Ukrainekrieg anfangen? Und wenn wir schon einen neuen Kurs finden, wie überzeugen wir den Wähler? Denn alles, was die Wähler in den letzten Jahren von der Linken gesehen haben, ist Streiten.

Ruck nach rechts

Die Linke entstand 2007 aus dem Zusammenschluss einer unzufriedenen Gruppe (west-)deutscher Sozialdemokraten mit der PDS, dem direkten Nachfolger der SED aus der ehemaligen DDR. In Erinnerung an ihren Namen war die Partei immer ganz links im politischen Spektrum. Die Linke versteht sich als Interessenvertretung der Arbeitnehmer und sozial Schwachen, Anwalt der Menschen in den neuen Bundesländern und sozialistisches Gegengewicht zum Kapitalismus, dem sich die übrige Politik verschrieben hat. Gegen die NATO, warm für Russland.

Wenn sich die Partei nicht erholt, verliert Deutschland nicht nur ein politisches Möbelstück; es könnte auch für die Politik insgesamt einen Rechtsruck einläuten. Zumal es im aktuellen Bundestag nur sechs Parteienkombinationen gibt: Deutschland hat eine Sperrklausel von fünf Prozent, ein- oder zweisitzige Parteien wie in den Niederlanden gibt es hier nicht. Also rechnen Sie mit ihm, sagt der Jungsozialist und Lehrer Carl Bauer (28), der am Samstag einen Infostand bemannt die aktivistische Untergruppe Bewegungslinke:

Die Regierungskoalition besteht aus drei Parteien. Die FDP ist eine rechte Partei. Die Grünen sind eine Umweltpartei, aber auf liberaler Basis. Die SPD setzt zwar einige Sozialpunkte um, etwa den Mindestlohn, ist aber sehr in die Mitte gedrängt. Die Koalition verfolgt insgesamt eine marktliberale Politik. Die Oppositionsparteien sind die konservative CDU/CSU, die rechtsradikale AfD und Die Linke. Wenn die Linke verschwindet, dann können diejenigen, die mit der Koalitionspolitik nicht einverstanden sind, nur noch weiter nach rechts rücken.‘

Genau letzteres passiert in einigen östlichen Bundesländern, wo die Proteststimme nicht mehr an Die Linke geht, sondern an die rechtsradikale, einwanderungsfeindliche und jetzt auch Anti-Corona-Partei AfD. Auch anderswo beißen die Parteien an der Daseinsberechtigung der Linken. Die Grünen betreiben neben Umweltpolitik auch feministische, Gender- und andere Identitätspolitik. Die SPD mit sozialen Versprechungen, trotz Bauers Kritik. Beide Parteien profitieren davon, dass hochgebildete Linksdeutsche gerne strategisch wählen. Weniger gebildete Deutsche wählen immer weniger. Die Linke verschwindet damit immer weiter im Randbereich.

Das Kernproblem ist: In den letzten Jahren ist immer weniger klar geworden, wofür Die Linke jetzt steht. Grob gesagt gibt es drei Flügel: die antikapitalistischen Kämpfer für die Arbeiterklasse, die hauptsächlich westdeutschen Sozialdemokraten, die sich für einen Systemwechsel einsetzen, und eine zunehmend durchsetzungsfähige junge Garde, die sich der Linken aus Liebe zu ihrem kompromisslosen Kampfethos angeschlossen hat sondern auch ihre eigenen Schwerpunkte: Feminismus, Geschlechtsidentität und vor allem der Kampf gegen den Klimawandel.

„Nein zum Krieg und nein zu Waffen!“

Diese kämpferische Vielfalt, wie eine antiautoritäre Sammlung Graswurzeln Organisationen, die tief in der Gesellschaft verwurzelt sind, war schon immer die Stärke der Linken. Doch jetzt, wo sich die deutsche Gesellschaft rasant verändert, scheint Die Linke größte Schwierigkeiten zu haben, mit einer Stimme zu reagieren. Und seit Russland einen Krieg gegen die Ukraine begonnen hat, sind die Spannungen in der bereits zerrissenen pro-russischen „Friedenspartei“ gelegentlich bis zum Siedepunkt gestiegen.

Denn ja, liebe Genossinnen und Genossen, sagte Co-Parteivorsitzende Janine Wissler auf dem Parteitag, um vor Hunderten von Linken die neue Russlandpolitik der Partei ein für alle Mal zu klären: Wir wissen, dass dieser Konflikt eine Geschichte hat. „Aber die russische Führung trägt die Verantwortung, und dieser verbrecherische Angriffskrieg hat keine Rechtfertigung. Die Ukrainer verdienen unsere Solidarität!

Wissler ist nicht der Erste, der das sagt, und bestimmt nicht der Letzte. Die Frage ist nur: Wie setzen wir das konkret um?

Die Linke plädiert für gezielte Sanktionen gegen Putins Oligarchenkreis, lehnt aber ein Energieembargo ab, das der russischen Wirtschaft insgesamt schadet und die deutschen Preise in die Höhe treibt. Die Partei ist entschieden gegen die geplante Investition von 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr und gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Eine Lösung muss aus der Diplomatie kommen – eine Strategie, die die meisten deutschen Parteien festgestellt haben, funktioniert nicht ohne militärischen Zwang.

Doch auch innerhalb der Linken ändere sich der Blick auf Russland, sagt Mario Candeias, Politikwissenschaftler der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Dieses Forschungsbüro ist parteinah. „Es gibt eine Minderheit älterer ostdeutscher Mitglieder, die sich Russland eng verbunden fühlen. Sie haben oft in der Sowjetunion studiert, und ihre Ideen sind tief verwurzelt im Antiimperialismus, gegen die Nato, gegen die USA. Aber ihre Zahl nimmt ab. Einige sterben aus, andere erkennen jetzt, dass Putins Russland anders ist als die Sowjetunion.“

Eine breite Mitte der Partei verurteilt nun die russische Aggression – aber im Kontext. In einer knapp verabschiedeten Parteiresolution heißt es, Die Linke „verurteilt jeden Krieg, sowohl den völkerrechtsfeindlichen Krieg der russischen Armee gegen die Ukraine als auch den brutalen Angriff der Türkei auf kurdisches Territorium und den langjährigen Krieg der NATO in Afghanistan“.

Klimagerechtigkeit

Wenn es eine Sache gibt, die die Wähler von Die Linke abschreckt, dann ist es der ständige interne Krieg, den die Mitglieder untereinander führen. Laut Rosa-Luxemburg-Stiftung können sich 18 Prozent der Wählerinnen und Wähler eine Stimme für die Partei vorstellen. Aber wenn es hart auf hart kommt, gehen fast alle Wähler kopfschüttelnd woanders hin. Unterstützt von den sozialen Medien und angeheizt von einer Krise nach der anderen – Pandemie, Inflation, Krieg – schwappt die traditionelle Kampfkultur der Partei über die Sockel der Zentrale in die Talkshows und Zeitungsseiten.

Wenn Die Linke sagt, dass sie für Impfungen ist, dann kann man sicher sein, dass am nächsten Tag ein prominenter Abgeordneter in einer Talkshow ist stellt den Nutzen von Impfungen in Frage. Wenn die Partei Waffen für die Ukraine ablehnt, meldet sich noch am selben Tag ein Geschwader mit dem Wunsch Rüstung zu diskutieren. Auf dem Parteitag selbst Ex-Parteichef Gregor Gysi kaum gesprochenoder ein Parteimitglied eilte ans Mikrofon, um Gysis Ablehnung einer geschlechtsneutralen Sprache anzuprangern.

Doch Einigkeit ist möglich, sagt Adelheid Rupp (63), Juristin, die vor anderthalb Jahren von der SPD zur Linken gewechselt ist. Und das kann sie mit einem Wort erklären: Klimagerechtigkeit.

Die jungen Leute, die jetzt in die Politik gehen, machen sich meist andere Sorgen als die linken Jugendlichen aus Rupps Jugend. Die Gewerkschaften sind out, soziale Gerechtigkeit ist abstrakt. Beim Neuzugang von Die Linke geht es um Geschlechteridentität oder Flüchtlinge, vor allem aber um den Klimawandel. Das scheint ganz anders zu sein als bei der älteren Arbeitergeneration, die mitten am Nachmittag damit beginnt, Bratwurstbrötchen mit Maß Bier herunterzuspülen.

„Aber Klimagerechtigkeit ist genau das Thema, zu dem wir in unserer Partei den Anschluss finden können“, sagt Rupp. „Das heißt, wir fragen uns bei allen Umweltmaßnahmen: Wie wirkt sich das auf die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft aus? Die Grünen wollen, dass jeder verpflichtet wird, ein Elektroauto zu kaufen, aber was, wenn man es sich nicht leisten kann? Wir müssen den Älteren sagen, dass es beim Klima auch um Ausbeutung geht, und unseren Jugendlichen erklären, dass wir die Welt nicht retten können, wenn das System so bleibt, wie es ist. Innerhalb des Kapitalismus ist die Frage nicht, ob wir gut auf die Umwelt achten, sondern: Machen wir Gewinn?‘

Und wer weiß, sagt Rupp, vielleicht stellt sich heraus, dass sich die Existenzkrise 2022 für Die Linke nur als Übergang in eine neue Zukunft herausgestellt hat.



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