Die Heuchelei rund um die europäische Migrationspolitik erstreckt sich über ganz Europa

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Redaktion

Der niederländischen Regierung wird vorgeworfen, die Aufnahme- und Asylkrise rund um das Aufnahmezentrum in Ter Apel nachlässig gehandhabt zu haben – nach Meinung einiger Leute, die es absichtlich eskalieren ließen. In Wirklichkeit erstreckt sich die Heuchelei jedoch über ganz Europa. Seit acht Jahren wird in Brüssel über eine Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik verhandelt.

Seit nunmehr acht Jahren wird die Debatte von einem unruhigen Bündnis von Maximalisten und Minimalisten gefangen gehalten, die einerseits weiterhin eine radikale Neuorientierung fordern, andererseits sich selbst und einander aber praktisch keinen Raum bieten praktikable Lösungen. Organisierte Heuchelei ist der Begriff, den der schwedische Organisationswissenschaftler Nils Brunsson dafür verwendet hat.

Das Problem ist bekannt. Migrationsdebatten sind moralistisch und politisiert. Die Reform der europäischen Migrationspolitik begann unter der vorherigen Europäischen Kommission unter der Führung von Präsident Jean-Claude Juncker. Im Zuge der Flüchtlingskrise von 2015 hat sich die Kommission zu einer radikalen Reform und Harmonisierung der Asylpolitik verpflichtet.

Dublin-Prinzip

Auffälligstes Element ist die Zwangsumverteilung von Migranten als (teilweiser) Ersatz des Dublin-Prinzips, wonach Migranten im Land der ersten Einreise Asyl beantragen müssen. Nachdem im September 2015 eine erste Entscheidung zur Zwangsumverteilung durch den Rat Justiz und Inneres mit qualifizierter Mehrheit vorangetrieben worden war, sprang der Europäische Rat der Regierungschefs auf die Akte. Migration war Chefsache.

Auf der Ebene der europäischen Staats- und Regierungschefs kamen die Verhandlungen nie wirklich in Gang. Dies machte es unmöglich, mit der Akte in den Maschinenräumen von Rat und Kommission fortzufahren. Stattdessen wurde eine Einigung über das Gesamtpaket und im Konsens gefordert. Maximalisten – insbesondere im Europäischen Parlament – ​​hielten an einem Alles-oder-Nichts-Ansatz fest, der eine obligatorische Umverteilung beinhaltete. Minimalisten – insbesondere die Visegrád-Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei, rot.) – wehren sich mit Händen und Füßen gegen diese Zwangsumverteilung. Die übrigen Mitgliedstaaten könnten sich hinter der polnisch-ungarischen Opposition verstecken.

Die derzeitige Kommission unter der Leitung von Präsidentin Ursula von der Leyen verfolgte einen anderen Ansatz. Migration soll keine Chefsache mehr sein. Innerhalb der Kommission wurde die Akte an EU-Kommissarin Ylva Johansson (weitergegeben), die einen deutlich anderen Ton angab. Migration müsse zu einem „langweiligen“ Gesetzgebungsdossier werden, vergleichbar mit der europäischen Handels- oder Wettbewerbspolitik. Noch wichtiger war, dass das Dossier vom Europäischen Rat ferngehalten werden musste. Zum Leidwesen des Europäischen Parlaments lag das Primat bei den weitgehend unsichtbaren technischen Verhandlungen im Rat und damit bei den Mitgliedstaaten.

Technokraten

Wir haben jetzt die Hälfte der Verhandlungen über den neuen Migrationspakt hinter uns. Vier Präsidentschaften – Deutschland, Portugal, Slowenien und Frankreich – haben versucht, Fortschritte zu erzielen. Schnell wurde klar, dass Migration nicht Beamten und Technokraten überlassen werden darf. Ohne politische Aufmerksamkeit und Schwung verzetteln sich die Verhandlungen auf technischer Ebene in rechtlichen (Un-)Möglichkeiten.

Das eigentliche Problem ist nicht eine Politisierung, sondern eine Legalisierung der Migrationsdebatte. Zudem gab und gibt es zunehmend offene Zweifel, ob die Lösung auf der Ebene der europäischen Gesetzgebung gefunden werden kann und soll. Es geht mehr darum betriebsbereit Probleme: z. B. Nichtdurchführung von Verfahren, Nichtregistrierung oder Nichtrückführung von Migranten.

Wie dann weiter? Wir können bereits zwei Lehren ziehen. Erstens: Entpolitisierung funktioniert nicht. Es braucht viel politische Aufmerksamkeit, um in diesem Dossier etwas zu bewegen. Die kleinen Schritte, die vor allem unter der französischen Ratspräsidentschaft unternommen wurden, waren das Ergebnis von viel politischem Tamtam und umfangreichen Pendeldiplomatie. Auf allen Ebenen, von Präsident Macron bis zum französischen Botschafter bei der EU, Philippe Léglise-Costa, wurden politische und administrative Kapazitäten freigesetzt. Wenn die Niederlande etwas gegen dieses Dossier unternehmen wollen, müssen Premierminister Rutte und Minister Yesilgöz die wichtigsten europäischen Hauptstädte bereisen, mit besonderem Augenmerk auf Rom, um die Dinge in Bewegung zu bringen.

Operative Zusammenarbeit

Zweitens, während man in Brüssel auf Dinge wartet, die vielleicht nie kommen werden – nämlich eine Einigung über die zentralen Elemente des neuen Migrationspakts –, könnten sich die Niederlande besser auf eine konkrete, operative Zusammenarbeit vor Ort konzentrieren. Das bedeutet, in Leitungsgruppen oder Untergruppen gemeinsam an konkreten Teilthemen zu arbeiten, die für diese Länder wichtig sind.

Etwas zähneknirschend beobachteten die Mitgliedstaaten, wie die französische Ratspräsidentschaft alles unternahm, um eine Einigung über die Überarbeitung des Schengener Grenzkodex zu erzielen. Für die Niederlande ist die unzureichende Umsetzung der „Dublin-Überstellungen“ (bei denen Asylbewerber in das erste Land der Einreise in die EU zurückkehren müssen, rot.) ein Dorn im Auge. Es ist nichts Falsches daran, sich auf nationale Prioritäten zu konzentrieren, solange man auch bereit ist, den Prozess zu ihnen in die Hand zu nehmen.

Sandrino Smeet ist der Radboud University Nijmegen angegliedert und forscht zu den großen Krisenverhandlungen in der Europäischen Union. Im Oktober ist er Gastkolumnist bei volkskrant.nl



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