Die USA, die EU und befreundete Länder wollen durch den Aufbau neuer Infrastruktur die Handelsströme von Indien über den Nahen Osten nach Europa fördern. Wie realisierbar ist diese westliche Seidenstraße mit China als Konkurrent? Sechs Fragen.
Was ist der Grund für die Entwicklung der Route?
Im letzten Jahrzehnt waren drei Buchstaben wichtig für Schwellenländer, die Häfen, Zugverbindungen, Minen und Straßen brauchten: BRI. Das steht für Chinas „Belt and Road Initiative“, mit der Peking Infrastruktur in rund 150 Ländern weltweit finanziert und aufbaut. Jetzt gibt es zumindest auf dem Papier einen zweiten Spieler.
Beim G20-Gipfel in Indien wurde am Samstag ein überraschender Mega-Deal abgeschlossen, bei dem demokratische Länder die Führung bei der Schaffung von Wirtschaftskorridoren in Südasien und im Nahen Osten übernahmen. Dieses Monsterprojekt heißt India Middle East Europe Economic Corridor, kurz Imec. Indische Medien nennen sie die „Gewürzstraße“, als Gegengewicht zu Chinas Neuer Seidenstraße, wie BRI im Volksmund genannt wird.
Über den Autor
Marije Vlaskamp schreibt de Volkskrant über Chinas Position in der Welt. Sie verfolgt auch die Entwicklungen anderswo in Asien. Sie war achtzehn Jahre lang Korrespondentin in Peking.
Warum braucht es ein Gegenstück zur BRI?
Die sich schnell industrialisierenden Volkswirtschaften im globalen Süden benötigen so viel Infrastruktur, dass es weltweit für China und den Westen gleichzeitig viel zu bauen gibt. Für Aufnahmeländer ist es gut, alternative Anbieter zu haben: Dann gibt es eine große Auswahl. Obwohl China bereit ist, ohne die strengen Auflagen, die bei multilateralen Geldgebern wie der Weltbank üblich sind, riskante Bauprojekte in Afrika, Asien und Lateinamerika in Angriff zu nehmen, haben BRI-Projekte auch Nachteile: Sicherlich waren sie in den ersten fünf Jahren durch gekennzeichnet Umweltschäden, Verschwendung, Spannungen mit der lokalen Bevölkerung und unübersichtliche Kreditstrukturen, die zu Schuldenbergen bei BRI-Kunden führten.
Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union sind seit langem besorgt darüber, wie China durch BRI seinen Einfluss im globalen Süden ausweitet. Unangenehm überrascht wurde Indien auch von BRI-Projekten im Wert von mehr als 53 Milliarden Euro, die China in Indiens Nachbar- und Erzfeind Pakistan installierte: Was Neu-Delhi betrifft, ein chinesischer Versuch, Indien zu erobern. Deshalb ist Indien mittlerweile die zweite asiatische Supermacht, die mit infrastrukturellen Bauprojekten international konkurriert, allerdings unterstützt von westlichen Demokratien. Es passt gut zu den USA, dass dadurch China abgeschnitten wird.
Wie sieht die neue Handelsroute aus?
In diesem frühen Plan ist fast alles offen. In den kommenden Monaten werden Indien, Italien, Frankreich, Deutschland, die USA, die EU und Saudi-Arabien untersuchen, wie die Reisezeit von Gütern von Indien nach Europa um 40 Prozent verkürzt werden kann, vorzugsweise auf saubere und energieeffiziente Weise. Dafür sind neue Schifffahrtsrouten, Umschlaghäfen, Bahnlinien und Pipelines erforderlich, die von Indien über das Arabische Meer in den Nahen Osten und dann über die Golfstaaten nach Europa führen.
Was ist der Unterschied zu BRI?
Nach Angaben der USA und der EU umfasst Imec Bauprojekte von höchster Qualität, die den höchsten Standards für Nachhaltigkeit, Umwelt und gute Regierungsführung entsprechen. Es gibt keine wirtschaftlichen Wagnisse in Form von undurchsichtig finanzierten Risikoprojekten, daher steht einer Beteiligung von Pensionsfonds, Investmentfonds und anderen privaten Kreditgebern nichts im Wege. Das meint zumindest die amerikanische Regierung, die seit Jahren verspricht, bei der BRI etwas besser zu machen. Auch die EU bietet Perspektiven für hochwertige Verkehrskorridore.
„Allerdings bleibt es auf Ankündigungen beschränkt, da die westlichen Reaktionen auf BRI nicht gut durchdacht und koordiniert sind“, sagt Matt Ferchen, BRI-Experte an der Yale University in den USA. „Als Gegengewicht zu China machen die USA und die EU alle möglichen Vorschläge, die ihren früheren Plänen ähneln, ohne dass eine Regierung oder Organisation mit ihnen sprechen könnte.“ Das bedeutet, dass sie ihre Geschichte nicht richtig vermitteln können, während BRI mittlerweile zu einem erkennbaren Namen, fast zu einer Marke, geworden ist.“
Wer soll das bezahlen?
Das ist die Schlüsselfrage. Im Gegensatz zu BRI steht hinter dieser „Spezialroute“ kein zwanghafter Einparteienstaat, der auf Knopfdruck Staatsgelder und staatliche Unternehmen für eine solche „politische Aufgabe“ mobilisiert, ob wirtschaftlich sinnvoll oder nicht.
Die reichen Industrieländer der G-7 haben 2021 versprochen, in den kommenden Jahren 600 Milliarden US-Dollar (mehr als 559 Milliarden Euro) in die Infrastruktur der Schwellenländer zu investieren. Die EU will mit ihrem Global Gateway-Projekt 300 Milliarden Euro einsammeln.
Imec bräuchte 20 Milliarden Dollar (18,6 Milliarden Euro), aber dieses Geld muss irgendwo gefunden werden. Vermutlich im privaten Sektor, denn angesichts des wirtschaftlichen Gegenwinds werden nur wenige Regierungen Kapital für Eisenbahnstrecken durch die arabischen Wüsten aufbringen. „Alles hängt von der Finanzierung ab“, sagt Abigaël Vasselier, die beim europäischen Think Tank Merics die Forschung zu Chinas Außenbeziehungen leitet. „Sonst haben Bauunternehmen kein Interesse an einem Einstieg.“
Was passiert, wenn Imec über diese Hürden stolpert?
Dann behält China vorerst seine dominante Stellung beim Aufbau der Infrastruktur. Allerdings arbeitet Peking selbst daran, die BRI einzudämmen, die selbst nach chinesischen Maßstäben zu einem Risiko wird, mit einer geschätzten Investition von fast einer Billion US-Dollar. Gerade jetzt, wo China mit seiner eigenen Wirtschaftskrise zu kämpfen hat, fällt Peking weniger Geld ein. Das schafft Platz für andere Spieler.
Nach Jahren voller schöner Versprechungen steht die Glaubwürdigkeit der USA und ihrer Verbündeten auf dem Spiel: Wenn sie Unterstützung für ihre geopolitischen Ziele von neutralen Ländern in Afrika, Asien und Lateinamerika wollen, muss dieser demokratische „Würzweg“ über das Reißbrett hinausgehen.