Der Volkstrauertag ist zu nah für ukrainische Flüchtlinge in Aalsmeer

Der Volkstrauertag ist zu nah fuer ukrainische Fluechtlinge in Aalsmeer


Großmutter Anna Sydorenko und Enkelin Kateryna Gromova in der Lobby des Renaissance Hotels in Schiphol.Statue Rebecca Fertinel

„Der Ruhm der Ukraine ist noch nicht verblasst, noch ist es ihre Freiheit.
Das Schicksal wird uns immer noch zulächeln, junge Brüder.
Unsere Feinde werden wie Tau in der Sonne verschwinden,
Und auch wir, Brüder, werden in unserem eigenen Land herrschen.‘

Es ist der Text, der zu der Melodie gehört, die von den Instrumenten des Musikvereins Almeers Harmonie kommt, Mittwoch um 3 Minuten nach 8 . Neben der Nationalhymne „Sjtsje ne vmerla Ukrajiny“ (Die Ukraine ist noch nicht untergegangen) im überfüllten Bürgersaal des Rathauses von Aalsmeer wird heute Abend die ukrainische Nationalhymne gespielt.

In diesem Jahr gibt es unter den traditionellen Blumenkränzen auch einen mit Sonnenblumen, dem nationalen Symbol eines Landes im Krieg. „Ich konnte kaum anders“, sagt Bürgermeister Gido Oude Kotte früher an diesem Tag in seinem Büro. „Vor 77 Jahren haben wir in Europa gegen einen Diktator gekämpft. Und jetzt noch einmal.‘ Kurz vor den zwei Schweigeminuten am Abend wiederholt der Bürgermeister diese Botschaft an die Öffentlichkeit: „Heute übernehmen wir in Aalsmeer Verantwortung, indem wir nicht wegschauen. Heute wollen wir gemeinsam gedenken. Zusammen mit denen, die zu uns geflüchtet sind.‘

Aalsmeer beherbergt etwa 135 ukrainische Flüchtlinge, doppelt so viel wie von der Regierung gefordert. Es gibt eine Verbindung mit dem Land; Viele Ukrainer haben bereits Arbeit bei der weltberühmten Blumenauktion der Gemeinde Noord-Holland gefunden. Eigentlich hatte Oude Kotte geplant, die ukrainischen Flüchtlinge mit einem Dolmetscher zur Gedenkfeier am 4. Mai einzuladen. Nach reiflicher Überlegung entschied er sich dagegen. Es wäre zu emotional, zu schmerzhaft.

Der Krieg zieht sich wie ein roter Faden durch Annas Leben

Zum Beispiel für Sydorenko Anna (75), die sich, bevor sie sich überhaupt vorgestellt hat, mit einem Taschentuch die Tränen wegwischt, die hinter ihrer Brille aufsteigen. Die Emotionen seien an diesem Mittwochmorgen sehr hoch, sagt Anna in der Lobby des Renaissance Hotels in Aalsmeer, wo sie mit Tochter und Enkelin betreut wurde.

Sie sind seit dem 13. März in den Niederlanden. Die drei versuchten noch, den Krieg zu überstehen, indem sie nachts im Auto im Parkhaus ihres Hauses in Kiew schliefen. „Aber dann wurde klar, dass dieser Krieg nicht so schnell vorbei sein wird“, sagt Enkelin Kateryna Gromova (33). „Wir haben beschlossen, mit dem Auto zu fliehen.“

Krieg, erzählt Anna, zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben. Ihr Vater verlor als Soldat in der sowjetischen Armee im Zweiten Weltkrieg ein Bein. Sie und ihre Familie gedachten ihrer immer am 8. Mai, einen Tag vor der offiziellen russischen Feier des Siegestages am 9. Mai, einem Relikt aus Sowjetzeiten. Das überspringt sie immer. „Die Zeremonie mit all den Panzern ist zu fröhlich“, sagt Anna. „So viele Menschen starben im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine.“

Vor Stalin geflohen

An ihrem Küchentisch in Aalsmeer erzählt die niederländisch-ukrainische Schriftstellerin Marianne Knecht, wie das Leben ihrer Mutter durch den Zweiten Weltkrieg unwiderruflich verändert wurde. Ihre Mutter wurde von den Deutschen aus der Ukraine, damals noch Teil der Sowjetunion, in ein Arbeitslager bei Frankfurt deportiert. Dort lernte sie ihren zukünftigen Ehemann und Knechts Vater, einen Aalsmeerder, kennen.

Aus Angst vor dem stalinistischen Regime beschloss ihre Mutter, ihn nach dem Krieg in die Niederlande zu begleiten. „Zusammen mit tausend anderen Frauen“, sagt Knecht. Sie schrieb den Roman 2007 Leibeigene über diese Frauen. „Stalin sah sie als Überläufer und tat alles, um sie zurückzubekommen. Meine Eltern mussten vor Ende 1945 heiraten, sonst müsste meine Mutter in ihre Heimat zurückkehren.“

Mit dem Krieg in der Ukraine kamen diese Erinnerungen wieder hoch. Im Vorfeld des 4. Mai schrieb Knecht einen Brief an den Bürgermeister über die Geschichte ihrer Eltern. Damit sei sie, so die Bürgermeisterin, die treibende Kraft hinter der Verknüpfung des Gedenktages mit der aktuellen Situation in der Ukraine. Oude Kotte bat Knecht, am 4. Mai einen Vortrag zu halten. Darin reflektierte sie die entscheidenden Entscheidungen ihrer Eltern während des Krieges. „Denken Sie sorgfältig nach, bevor Sie eine Wahl treffen. Auch wenn die Folgen unbekannt sind und es ein Glücksspiel wie russisches Roulette ist.“

Ihre Mutter starb vor fast zwanzig Jahren. Sie wäre stolz auf ihre Tochter gewesen, findet Knecht. „Aber ich bin froh, dass sie das nicht durchmacht. Denn dann würde sie auch sehen, wie ihr Land zerstört wird. Von den Russen natürlich.«

Gedenken in Kriegszeiten

Dass heute Abend im Rathaus von Aalsmeer die ukrainische Nationalhymne erklingt, beschert Anna „Gänsehaut am ganzen Körper“, sagt sie. Aber sie konnte nicht dabei sein. „Die Holländer fragen mich dann nach meiner Geschichte und ich muss wieder weinen. Ich möchte das nicht.‘ Enkelin Gromova schaffte es auch nicht. „Ich tue alles, um mich abzulenken. Ich helfe den Ukrainern hier, ich versuche, den Ukrainern in Kiew zu helfen, ich möchte so schnell wie möglich zur Arbeit gehen. Ich werde alles tun, solange ich nicht an den Krieg denken muss. Ich kann das nicht tun, wenn ich mich zwei Minuten erinnere.‘

Jedes Jahr am 8. Mai zündet ihre Familie eine Kerze für alle Opfer des Zweiten Weltkriegs an. In diesem Jahr zünden sie die Kerze in ihrem Hotelzimmer in Aalsmeer am Mittwochabend um 8 Uhr an, gleichzeitig mit dem Gedenktag im Rathaus. „In diesem Jahr gedenken wir auch der Menschen, die seit dem 24. Februar 2022 verstorben sind“, sagt Anna. „Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht an den aktuellen Krieg denke“, sagt Gromova. „Jeden Tag wache ich auf und habe Angst, dass ein Freund gestorben ist.“

Der Chor der ukrainischen Nationalhymne:

„Wir werden unsere Seelen und Körper für unsere Freiheit geben.

Und wir werden zeigen, dass wir, Brüder, zur Familie der Kosaken gehören.“



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