Während seiner Jahre als Chinas Führer wurde Jiang Zemin oft verhöhnt. Obwohl er einen enormen Wirtschaftsboom beaufsichtigte und China aus der diplomatischen Isolation herausführte, schien er viele Probleme hinauszuschieben. Er kümmere sich nur um den Laden, sagten Kritiker, wie ein Technokrat. Aber als die Jahre vergingen und Chinas Autoritarismus sich verhärtete, wurde das Urteil weicher: Verglichen mit der derzeitigen chinesischen Führung schien Jiang ein aufgeklärter Autokrat zu sein.
Chinesische Staatsmedien berichteten am Mittwoch über den Tod des 96-jährigen Jiang Zemin an Leukämie. Der frühere Parteichef und Präsident war jahrelang ohne Einfluss, doch sein Tod symbolisiert – wie der unrühmliche Rückzug seines Nachfolgers Hu Jintao während des Parteitags – das Ende einer Ära in China. Eine Ära des Pragmatismus und der Annäherung an den Westen. Und eine Zeit, auf die immer mehr Chinesen gerne zurückblicken.
eigene Ideologie
Jiang regierte China von 1989 bis 2002, eine Zeit, die von wirtschaftlicher Offenheit, aber auch politischer Rigidität geprägt war. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens wurden politische Reformen rückgängig gemacht und Dissidenten und Kritiker unerbittlich verfolgt. Gleichzeitig privatisierte Jiang die chinesische Wirtschaft, deren Wert sich unter seiner Führung verdreifachte. Er entwickelte seine eigene Ideologie, wonach Privatunternehmer Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas werden konnten.
Im Juni 1989 kam Jiang nach dem blutig niedergeschlagenen Studentenaufstand auf dem Tiananmen-Platz in Peking unerwartet an die Macht. Der mit Studenten sympathisierende Parteivorsitzende Zhao Ziyang wurde abgesetzt, Pekings Führung wurde von Gemetzeln befleckt und Jiang wurde als relativ unbekannter und unbestrittener Apparatschik aus Shanghai geholt. Er galt als Übergangsfigur, konnte sich aber als Anführer behaupten.
„Der Mann, der China veränderte“, wie der Titel seiner autorisierten Biographie lautet, wurde 1926 in einer wohlhabenden Familie in der Provinz Jiangsu geboren. Er studierte an einer amerikanischen Missionsschule, erhielt einen Abschluss als Ingenieur und wurde für ein Jahr in eine Autofabrik in Moskau geschickt. Er bewahrte sich umfangreiche Sprachkenntnisse, die er gerne zur Schau stellte. Wie viele Parteifunktionäre machte er Karriere in der Regierung, indem er sich bedeckt hielt.
Wetterfahne
Nach der Kulturrevolution wurde Jiang nach Shanghai geschickt, wo er als Wirtschaftsreformer hervortrat. Er setzte diese Linie als Parteivorsitzender fort: Er überwachte Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 und zog ausländische Investitionen an. In diesem Zusammenhang verstärkte er die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Dank guter diplomatischer Beziehungen konnten zwei schwere militärische Zwischenfälle in den Jahren 1999 und 2001 relativ schmerzlos aufgeklärt werden.
Unter Jiang erlebte China einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung, aber es entstanden auch große soziale Probleme. Die Ungleichheit nahm zu und die Korruption grassierte. Politisch wirkte Jiang zunächst wie ein Reformer, bis in Peking der Wind drehte und er eine harte Linie einschlug. Er entließ einen liberalen Chefredakteur, den er zuvor verteidigt hatte, und ging hart gegen die religiöse Bewegung Falun Gong vor. Es brachte Jiang den Ruf ein, eine Windfahne zu sein.
Westliche Regierungen reagierten positiv auf Jiangs wirtschaftliche Offenheit und wischten ihre Empörung über das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens und andere unterdrückte Dissidenten beiseite. Der chinesische Präsident bezauberte auch mit seiner fröhlichen Art. Bei Staatsbesuchen demonstrierte er gerne Klavier oder Ukulele, zitierte Gedichte oder sang Oh Sole Mio oder Liebe mich zärtlich. Er tanzte mit der französischen First Lady einen Walzer und sogar einen Chachacha.
Positives Bild
1998 gaben er und US-Präsident Bill Clinton in Peking eine Pressekonferenz mit unvorbereiteten Fragen zu Menschenrechten, Tibet oder dem Tiananmen-Massaker. Die Pressekonferenz wurde live von staatlichen chinesischen Medien übertragen. Das war in China und seit Jiang nicht mehr gesehen worden. Im Jahr 2000 gab er dem amerikanischen Sender CBS ein ausführliches Interview, in dem er die Anfangszeilen der Gettysburg Address von Abraham Lincoln zitierte.
„Als ich seinen Auftritt in der Großen Halle sah, fragte ich mich, ob in der Figur von Jiang ein fortschrittlicheres China aus den Ruinen von Maos Revolution hervorging“, schrieb der amerikanische China-Forscher Orville Schell 1999 nach der Pressekonferenz mit Bill Clinton. „Jiang schien eifrig zu versuchen, sich als kosmopolitischerer Führer neu zu erfinden, der weniger durch Parteidogmen und -protokolle eingeschränkt ist und sich mit dem Westen wohler fühlt.“
Am Ende stellte sich heraus, dass Jiangs Offenheit hauptsächlich aus Worten bestand. Aber im Vergleich zur derzeitigen chinesischen Führung befürwortete er einen sanften Autoritarismus mit einer gewissen Meinungsfreiheit. An seinem 90. Geburtstag im Jahr 2016, vier Jahre nach Xi Jinpings Amtsantritt, lösten chinesische soziale Medien sogar eine Kampagne von Jiang-Anbetern aus, die sagten, sie wollten zu seiner Ära zurückkehren. Die Kampagne wurde zensiert, verlieh Jiang jedoch rückwirkend ein positiveres Image.
3XJIANG
So wie Xi Jinping laut chinesischen Internetnutzern Winnie the Pooh ähnelt, wird Jiang Zemin zu einem Frosch verglichen. Bilder von Fröschen wurden in China eine Zeit lang zensiert, als sie verwendet wurden, um Nostalgie für Jiang auszudrücken.
Im Jahr 2000 beschimpfte Jiang einen Hongkonger Journalisten ‚zu einfach, manchmal naiv‘ sein. Die Aussage ist in China – auch in GIFs und Memes – zu einem gebräuchlichen Ausdruck für jemanden geworden, der zu naiv an westlichen Werten festhält.
Jiang war einer praktischer Reißverschlussschieber, musste in China Karriere machen. Als für die Elektronikindustrie zuständiger Minister schenkte er Parteichef Chen Yun den ersten Farbfernseher. Er installierte es eigenhändig in Chens Wohnzimmer.