Der Krieg in der Ukraine zwingt Schweizer Unternehmen dazu, Entscheidungen zur Neutralität zu treffen

Der Krieg in der Ukraine zwingt Schweizer Unternehmen dazu Entscheidungen


Im glänzenden neuen Chipperfield-Anbau des Zurich Kunsthaus, ganz aus poliertem Kalkstein und Gold, ist ein Raum, der der Sühne für die moralischen Lasten der wirtschaftlichen Neutralität gewidmet ist. Die Sammlung Bührle ist einer der größten privat zusammengetragenen Fundgruben moderner europäischer Kunst und der ganze Stolz des Neubaus.

Es wurde von Emil Bührle, dem Schweizer Industriellen und Waffenhersteller, der seine millionenfach verkauften Waffen prägte, zusammengebaut. Zu den Nazis. Und zu den Alliierten. Nun bedarf das Bührle-Erbe natürlich einiger geschickter Erklärung. Ein Museum im Museum – dieser Raum – tut dies.

Vier Monate nach dem größten Krieg auf europäischem Boden, seit Bührles Granaten nach Osten und Westen rollten, ist die Schweiz nicht mehr der Ort, an dem ein Geschäftsmann so leicht von einer kriegführenden Welt jenseits der 24 Kantone profitieren kann. Aber es gibt noch einiges zu erklären.

In einem Schritt, der viele Verbündete – und in der Tat viele Schweizer – überrascht hat, hat Bern fast alle Sanktionen der EU gegen Russland übernommen.

Das ist keine Kleinigkeit: Mehr als 1100 Personen mit engen Verbindungen zum Putin-Regime, Hunderte von ihnen machen Geschäfte mit Schweizer Banken, sind damit verbunden. Und weitaus wichtiger ist, dass der Handel mit russischen Bodenschätzen eingeschränkt wird – der Großteil davon wird über die großen Rohstoffhäuser in Zug und Genf abgewickelt. Bern beharrt darauf, dass dies nicht bedeute, dass sich an der lang gehegten Neutralität der Schweiz etwas geändert habe.

Andere, insbesondere der größte politische Block des Landes, die populistische Schweizerische Volkspartei (SVP), sind anderer Meinung. Neutralität ist im SVP-Buch auch gleichbedeutend mit Handel frei von politischer Einflussnahme. Berns Bereitschaft, sich Brüssel und Washington anzuschließen, sei ein Verrat an Schweizer Werten, argumentiert die SVP. Und wie Fraktionschef Thomas Aeschi Anfang dieses Monats im Parlament donnerte, gibt es keine Beweise dafür, dass Sanktionen den Kurs Russlands ändern, sondern nur den Schweizer Wirtschaftsinteressen schaden. Mit den Worten, die oft dem Diplomaten Talleyrand aus dem 19. Jahrhundert zugeschrieben werden: Sie sind schlimmer als ein Verbrechen, sie sind ein Fehler.

Aeschi hat recht. Die Schweiz wird durch die Verhängung von Sanktionen gegen Russland mehr verlieren als die westlichen Länder. Natürlich gibt es viele Gründe, in der Schweiz Geschäfte zu machen. Abgesehen von den gut ausgebildeten Arbeitskräften, dem Steuerregime, der Stabilität und dem Rechtsstaat bleibt für viele Menschen, die ins Land kommen, auch der Reiz der starken Unabhängigkeit der Schweiz. Seine Neutralität.

Viele Unternehmen haben sich in der Schweiz niedergelassen, weil sie das Land als Zufluchtsort vor regulatorischen, gerichtlichen und politischen Übergriffen der USA und der EU ansehen.

Banker machen sich jetzt Sorgen darüber, was chinesische Kunden davon halten könnten, ihre Geschäfte mit einer Schweizer Bank zu tätigen, die soeben angeordnet wurde, die Vermögenswerte russischer Kunden einzufrieren. Was würde in der Schweiz passieren, wenn die Spannungen wegen Taiwan zunehmen?

Und was ist mit einem Unternehmen wie Syngenta, das in chinesischem Besitz ist, hier seinen Sitz hat und ein Aufbewahrungsort für höchst wertvolles geistiges Eigentum ist? Wenn die USA Sanktionen gegen die chinesische Wirtschaft verhängen würden, würde Bern gegen eine seiner größten Unternehmenserfolgsgeschichten vorgehen?

Viel wurde aus dem Politischen gemacht Zeitenwendea Wendepunkt, der Deutschland erschüttert hat – wie der Krieg in der Ukraine ein Überdenken des langjährigen Engagements des Landes für den Pazifismus erzwungen hat. Man könnte vermuten, dass die Schweiz in kleinerem Massstab mit einer ähnlichen Verschiebung konfrontiert ist, aber in wirtschaftlicher Hinsicht. Oder zumindest seine Umrisse zu betrachten.

Die Frage ist, kann es sich eine westliche Wirtschaft, die jetzt so tief in die sie umgebenden Volkswirtschaften und das westliche Finanzsystem integriert ist, leisten, in den sich vervielfachenden geopolitischen Krisen, mit denen der Westen konfrontiert ist, abseits zu stehen?

Es ist kein neues Problem. Die Krise in der Ukraine hat es einfach in den Fokus gerückt. Die Schweiz befindet sich seit Jahren in qualvollen Verhandlungen mit der EU über die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Freiheiten.

Für Thomas Borer, einen ehemaligen Schweizer Diplomaten, der nicht nur einen Großteil der aktuellen offiziellen Neutralitätspolitik entwarf, sondern auch die wegweisende Schweizer Untersuchung der von den Nazis geplünderten und in Schweizer Banken versteckten Vermögenswerte leitete, war die ganze Debatte über Unternehmen oder wirtschaftliche „Neutralität“ ist ein leichtes.

Neutralität sei ein Instrument der Außenpolitik, nicht ihr Ziel. Ziel ist es, die nationalen Interessen der Schweiz so stark wie möglich zu verteidigen.

Die Zeit, in der die Schweiz wirtschaftlich den Kopf in den Sand stecken könne, sei vorbei. „Wir müssen verstehen, wer unsere Freunde sind und wer unsere Werte teilt. Die Schweiz muss Entscheidungen treffen.» Schweizer Unternehmen – und diejenigen, die hier Geschäfte machen – werden es auch müssen.

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