„Da ist meine hart erkämpfte Anonymität hin!“, sagte der Schriftsteller Paul Lynch am Sonntagabend, nachdem der Vorsitzende der Jury, Esi Edugyan, die Veröffentlichung seines Romans bekannt gegeben hatte Prophetenlied war mit dem Booker-Preis 2023 ausgezeichnet worden. Er hatte sich ungläubig die Augen zugehalten.
„Es war nicht einfach, ein Buch zu schreiben“, fuhr er fort. „Der rationale Teil von mir war überzeugt, dass ich mit diesem Buch meine Karriere als Schriftstellerin gefährden würde.“ Trotzdem musste ich es schreiben. Sie haben in diesen Angelegenheiten keine Wahl. Um die apokryphen Evangelien zu zitieren: „Wenn du nutzt, was in dir ist, wird dich das, was in dir ist, retten.“ Wenn du nicht nutzt, was in dir ist, wird dich das, was in dir ist, zerstören.“ Mein Schreiben hat mich gerettet.“
Über den Autor
Hans Bouman verschreibt de Volkskrant über Bücher und konzentriert sich hauptsächlich auf Literatur und Autoren aus dem englischsprachigen Raum.
Paul Lynch wurde 1977 in Limerick, Irland, geboren. Sein Debüt gab er 2013 mit dem vielbeachteten Roman Roter Himmel am Morgen. Dieses Buch befasste sich mit Themen, die sein späteres Werk prägen sollten, wie Migration, Rassismus und Gewalt.
Sein dritter Roman, Anmut (2017), spielt während der irischen Hungersnot und wurde mit verglichen Die Straße von Cormac McCarthy, auch ein Vergleich Prophetenlied ist gefallen. Auch Namen wie William Faulkner, Herman Melville, Samuel Beckett und Seamus Heaney tauchen regelmäßig in Reflexionen über sein Werk auf, das sich neben den genannten Themen auch mit Themen wie Glaube, menschlichem Leid, Entfremdung und dem Phänomen der Identität auseinandersetzt.
Dystopisch
Prophetenlied, Lynchs fünftes Buch, ist ein ausgesprochen dystopischer Roman, der in einem Irland der nahen Zukunft spielt. Die rechtsradikale National Alliance Party gewann die Wahlen und gründete einen Geheimdienst namens Garda National Service Bureau (GNSB). Agenten dieser Organisation besuchen jeden Bürger, der im Verdacht steht, dem neuen Regime gegenüber untreu zu sein.
Eines Tages klopft die Organisation auch an die Tür von Eilishs Familie, die im Mittelpunkt dieses Romans steht. Lynch stellt geschickt den schrittweisen Fortgang der Unterdrückung dar, der nicht nur Assoziationen zur Situation in Syrien, sondern auch zum Schicksal der europäischen Juden in der Nazizeit weckt. Jedes Mal, wenn man denkt, dass der Höhepunkt der Unterdrückung erreicht ist, dass es nicht noch schlimmer werden kann, wird es noch schlimmer. Und noch einer. Wenn sich die Menschen schließlich wehren, ist es zu spät.
Mutiges Unterfangen
Beim Lesen wächst die Bewunderung für die Hauptfigur Eilish, die alles tut, um ihre Familie zu schützen und ständig verzweifelt nach Lösungen für neue Probleme sucht. Ihre 15-jährige Tochter Molly wird depressiv und kommt nicht aus dem Bett, und die 12-jährige Bailey macht erneut ins Bett. Und Nachzügler Ben ist sich vielleicht nichts bewusst, doch als es keine Babynahrung mehr gibt, leidet auch er unter den Umständen. Dann ist da noch Simon, Eilishs Vater mit Demenz. Er gibt ständig Anlass zur Sorge und steht auch im Mittelpunkt der wenigen humorvollen Momente des Romans.
Von der Form her Prophetenlied ein etwas gewagtes Unterfangen. Das Buch enthält keine Absätze – nur gelegentliche Leerzeilen – und auch keine Anführungszeichen. Das bedeutet, dass in Dialogen nicht immer klar ist, wer spricht. Als Leser denkt man oft, dass Person A noch spricht, bis sich nach und nach herausstellt, dass man die Worte von Person B liest.
Die Wirkung ist ein teilweise einschüchterndes Sprachbombardement, das der im Buch vorherrschenden Rücksichtslosigkeit entspricht, aber auch hohe Ansprüche an den Leser stellt. Im Gegensatz dazu gibt es viele kraftvolle Formulierungen: „Sie schweigt, geht ans Fenster und öffnet die Vorhänge; Der Raum wird von schmutzigem Licht beleuchtet.‘
Meisterhaftes Romanwerk
Die Booker-Jury rief an Prophetenlied Ein Buch für unsere Zeit. Präsident Edugyan wurde am Sonntag gefragt, ob die Gewalt in Syrien, der Ukraine und Palästina sowie die jüngsten rechtsradikalen Gewaltverbrechen in Irland selbst bei der Verleihung eine Rolle gespielt hätten. Ihre Antwort: „Das war während der Diskussion ein paar Minuten lang ein Thema, aber das aktuelle Geschehen war nicht der ausschlaggebende Faktor.“ Wir denken Prophetenlied einfach ein meisterhaftes fiktionales Werk.‘
Lynch über die Aktualität seines Buches: „Warum haben wir im Westen so wenig Mitgefühl für die Flüchtlinge, die unsere Grenzen überschwemmen?“ Prophetenlied ist zum Teil ein Versuch radikaler Empathie. Um es besser zu verstehen, müssen wir das Problem zunächst selbst erleben. Und so habe ich versucht, die Dystopie durch die Einführung eines hohen Maßes an Realismus zu vertiefen. „Ich wollte den Leser so eintauchen, dass er am Ende des Buches dieses Problem nicht nur kennt, sondern es auch selbst spürt.“
3x den Booker-Preis
Der Booker Prize ist der größte Literaturpreis im englischsprachigen Raum. Der Gewinner erhält 50.000 Pfund (63.000 Euro).
Der Preis wurde erstmals 1969 verliehen. Die Initiatoren Tom Maschler und Graham Greene wollten das angelsächsische Äquivalent des französischen Prix Goncourt schaffen.
Eine irische Autorin hat den Preis bereits fünf Mal gewonnen: Iris Murdoch, John Banville, Roddy Doyle und Anne Enright gingen vor Lynch.