„Komm, lass uns jetzt pinkeln gehen. Wir haben noch fünf Minuten, um unseren Zug zu erreichen. Sonst können wir erst in einer Stunde auf die Toilette.“ Leonoor Butoh ist seit vier Jahren Dirigentin bei der NS, doch die Folgen des Personalmangels erlebt sie mittlerweile fast täglich. Es ist ein Ehrenkodex für Fahrer und Schaffner, die Passagiertoilette nicht zu benutzen. Also muss sie sich jetzt beeilen. Normalerweise sind die Pausen 20 bis 30 Minuten lang, jetzt ticken die Sekunden dahin. Der Zug verlässt Amersfoort in einer Minute. Sandwich, Zigarette, Toilettenbesuch: Butohs regelmäßiges Ritual ist zunehmend bedroht.
„Wegen Personalmangel fahren weniger Züge.“ Fahrgäste lesen die NS-Warnung an allen Bahnhöfen in den Niederlanden. Und es ist spürbar. Züge, die fahren, sind überfüllt und haben manchmal eine viel längere Fahrzeit. Oder sie fallen plötzlich ganz heraus. Das führt zu einer Flut von Beschwerden.
Die NS hat elfhundert offene Stellen. Die Bahngesellschaft sieht sich gezwungen, den Fahrplan in diesem Sommer zu streichen, obwohl laut Bert Groenewegen, dem vorläufigen Nachfolger der zum 1. Juli zur KLM gewechselten Vorstandsvorsitzenden Marjan Rintel, 95 Prozent der Züge weiterfahren werden. Der Arbeitsdruck ist nach Angaben der Gewerkschaften teilweise unannehmbar hoch. „Am Arbeitsplatz ist es nicht mehr selbstverständlich“, sagt Henri Janssen, Direktor von FNV Spoor. Bereits in der vergangenen Woche forderte die Gewerkschaft die NS auf, strukturell „zu verkleinern“, also weniger Züge einzusetzen, um die Arbeit zu entlasten.
Die Niederländische Eisenbahn (NS) ist gerade nach der Corona-Krise wieder auf Kurs gekommen, als sie 80 bis 90 Prozent ihrer Reisenden verlor. 2020 verzeichnete das Transportunternehmen einen Rekordverlust von 2,6 Milliarden Euro, 2021 weitere 1,1 Milliarden. Die NS erhielt fast eine Milliarde Euro Staatshilfe. Um Kosten zu sparen, wurden 2.300 Stellen durch natürliche Fluktuation abgebaut, obwohl die NS eine Arbeitsplatzgarantie bis 2025 bot. „Man kann eine Parallele zum Chaos auf Schiphol ziehen“, sagt ein Schaffner, der anonym bleiben möchte. „Sie können den Käsehobel nicht für immer über Ihre Organisation nehmen.“
Bei einem Rundgang durch die NS hört man überall den gleichen Hilferuf. Die Planer, die Disponenten, die Trainer und die Dirigenten fühlen sich in einem Teufelskreis. „Wir bekommen es einfach nicht hin.“
Die Planer: Formel 1 und eine volle Johan-Cruijff-Arena, das geht nicht
Wer hat Anfang September Vorrang, die Formel-1-Enthusiasten oder die Fußballfans? Die Abteilung Network Design and Development (NO) der NS denkt darüber nach. Zwölf Züge pro Stunde von Amsterdam zur Formel 1 in Zandvoort sind schon eine Höllenaufgabe. Im vergangenen Jahr lag die Kapazität aufgrund der Corona-Maßnahmen noch bei 70.000, jetzt dürfen im September 110.000 Besucher auf die Rennstrecke kommen. Und so forderte die NS den KNVB bereits auf, Ajax-Cambuur (6. September) zu verlegen oder das Spiel in Leeuwarden austragen zu lassen. Hazenkamp: „Wir werden an diesem Abend keine weiteren 50.000 Besucher aus der Johan-Cruijff-Arena herausbekommen.“
Aber das Problem ist umfassender. „September und Oktober sind unsere Spitzenmonate, aber selbst dann sind die Probleme noch nicht gelöst“, warnt Thijs van Daalen von NO. „In diesen Monaten wird der Personalmangel am dringlichsten sein.“ Van Daalen spricht von einem Dilemma, das NS ins Herz trifft. „Jeder Zug, den wir kürzen, tut weh. Sie sehen, dass die Zahl der Reisenden nach der Corona-Krise rasant ansteigt. Wir sind jetzt bei 80 Prozent der Zahlen vor der Pandemie. Ein enormes Wachstum wird ab 2024, 2025 erwartet. Dieses Jahr wollen wir die Leute wieder in den Zug holen, aber die Strecke ist aufgrund des Personalmangels ausgefallen.‘
Und so wird es immer schwieriger, das Puzzle zusammenzusetzen. Für Reisende auf der Strecke Den Bosch – Utrecht, wo ab Donnerstag die Arbeiten in Culemborg beginnen, stehen nicht genügend Busse zur Verfügung. Vermeiden Sie diesen Weg, lautet der Rat. Die zusätzlichen Nachtzüge für die Vier-Tage-Märsche in Nijmegen verursachen tagsüber Personalengpässe. „Es ist ein Kampf“, seufzt Van Daalen. „Weniger Züge fahren zu lassen, ist der letzte Ausweg.“
Die Dienstplaner: Die traditionelle „SMS-Bombe“ hilft nicht mehr
Der neue Zeitplan wird jeden Donnerstag in der Zentrale in Utrecht bekannt gegeben, aber noch können nicht alle Dienste „eingestellt“ werden. Die Region Utrecht kämpft mit erheblichen krankheitsbedingten Fehlzeiten: 23 Prozent der Schaffner können nicht eingesetzt werden. Dienstplaner Edward Kok hat zu seiner Frustration festgestellt, dass die traditionelle „SMS-Bombe“ zur Mobilisierung von Personal nicht mehr ausreicht.
„Die enormen krankheitsbedingten Fehlzeiten machen den Druck auf die anderen noch größer. Trotz Aufpreis kommen sie nicht mehr. Logisch, wenn man jeden Tag irgendwo einspringen muss. Jeder weiß, dass wir am Arbeitsplatz plündern. Ich sehe auch Fahrer und Schaffner, die auf ihrem Zahnfleisch gehen. Aber was willst du?‘
Kok zeigt auf seinen Computer. Sieben Schichten konnte er für Samstag nicht absolvieren, aber für Montag sind noch fünf Frühschichten offen. Die Zeitpläne sind zu einer Kopfschmerzenakte geworden. Die Regulierungsabteilung macht Überstunden, Zugausfälle sind unvermeidbar. Kok: „Für uns fühlt es sich auch wie eine Niederlage an.“
Die Ausbilder: zu wenige Fahrer, aber auch zu wenige Instruktoren
Als Ausbilder neuer Operateure weiß René Kist, dass alle Augen auf ihn gerichtet sind. 400 davon muss er schließlich an das Simulatorzentrum in Amersfoort liefern, aber die Ausbildung dauert durchschnittlich 1 bis 2 Jahre. Auch hier sei der Druck mehr als spürbar, sagt Kist. ‚Maschinisten rollen nicht automatisch vom Band.‘
Das Alter zählt bei NS nicht. Kist hat bereits einen 59-jährigen Ex-Piloten zum Maschinisten umgeschult, ebenso ein 17-jähriges Mädchen. Manche Fahrer fahren Zug, obwohl sie noch keinen Führerschein haben. Als ob Max Verstappen hinter dem Simulator eine neue Strecke erkundet, fährt der Student von Schiphol nach Utrecht an der NS. Signale, Regen und Nebel; alles kann nachgemacht werden.
Aber auch der Arbeitskräftemangel ist in Amersfoort eine Bedrohung. Ex-Ingenieur Kist fehlt es an Ausbildern. Der Basislernpfad für Maschinisten (BLM) wurde bereits angepasst, wir arbeiten in größeren Gruppen. „Leider können wir nicht zu viele Fahrer als Mentoren einsetzen, auch wenn sie gebraucht werden. Manchmal haben wir auch zu wenig Simulatoren für die Studenten, was besorgniserregend ist. Die Grenze dessen, was wir noch erklären können, rückt in Sicht.‘
Aufgrund des neuen Schienensicherungssystems müssen ab 2023 rund 3.500 Fahrer umgeschult werden. „Das kommt noch dazu“, sagt Kist. FNV Spoor spricht von einer „Freigabe“ im Training. Kist weist auf die unveränderten Prüfungsanforderungen hin. „Da machen wir keine Zugeständnisse.“
Die Dirigenten: „Das Grundgehalt sollte angehoben werden“
Mit 45 vollzog Leonoor Butoh einen Karrierewechsel. Früher war sie Chefsekretärin, jetzt hat sie als Chefdirigentin in ihrer unbemannten Kabine die beste Aussicht der Niederlande. Aber ihr aktueller Job ist körperlich anstrengend. „Gehen Sie mit“, sagt Butoh, als der Zug Amersfoort verlässt. Der Zug holpert von links nach rechts über die Weichen, die Schaffnerin hat manchmal Mühe, das Gleichgewicht zu halten. ‚Fühlst du es? Es ist ein Angriff auf deinen Rücken und deine Knie.‘
FNV Spoor interveniert für Butoh und ihre Kollegen. Die erhöhte Arbeitsbelastung durch den Personalmangel rechtfertige einen besseren Tarifvertrag, sagt FNV-Geschäftsführer Janssen. Doch die Verhandlungen sind festgefahren. Die Gewerkschaften finden eine 8-prozentige Gehaltserhöhung für 30 Monate völlig unzureichend. „Das sind 3,2 Prozent auf Jahresbasis, also weit unter der himmelhohen Inflation.“
Janssen prangert vor allem das „Rendite-Denken“ an, das seiner Meinung nach unter der Leitung von Marjan Rintel eingeführt wurde. „Der Personalmangel besteht seit Jahren, die aktuellen Probleme sind zum Teil das Ergebnis schlechter Politik.“ Nach fünf Tagen ist der FNV „verhandelt“. Auch die anderen Gewerkschaften graben im Sand. FNV-Geschäftsführer Janssen sieht es düster. „Bei NS sitzen keine Verhandlungsführer, sondern Einkäufer am Tisch. Ich vermisse auch einen echten ‚Deal Maker‘, jemanden, der es wagt, einen Durchbruch zu erzwingen.“ Die NS-Führung will sich zu den festgefahrenen Verhandlungen nicht äußern.
Leonoor Butoh ist Schaffner und Informationsquelle im Bahnhof, weil die Servicestelle der NS geschlossen ist. „NS muss es wirklich wagen, in seine Leute zu investieren“, sagt Butoh. Nach einer weiteren Zigarette und einem Pipi bläst sie in ihre Pfeife. „Wir leisten Menschenarbeit, wir garantieren die Sicherheit der Menschen. Der Schaffner ist das Bindeglied, ohne eine anständige Pause geht man anders durch den Zug. Wir müssen uns jetzt hauptsächlich auf die Zulagen konzentrieren, das Grundgehalt sollte angehoben werden.‘ Augenblicke später kommt ihre Stimme durch die Gegensprechanlage. ’17 Uhr 46, wir haben Enschede pünktlich verlassen.‘
Ein beispielloser Wendepunkt auf dem Arbeitsmarkt
Erstmals seit Beginn der CBS-Messungen gibt es mehr offene Stellen als Arbeitslose. Die Niederlande scheinen vom Personalmangel völlig überrascht worden zu sein. Wo kommt das her?