Dies bedeutet, dass die unbestrittene Wahrheit möglicherweise niemals ans Licht kommt. Das heißt: Den Tisch deckt die türkische Regierung, die laut Kritikern einfach ihre eigene Art hat, mit der Wahrheit umzugehen.
Klar ist, dass der Bombenanschlag von der Regierung nicht nur als Narbe in das kollektive Gedächtnis eingebrannt wird. Am Unfallort, direkt vor dem Mango-Laden in der belebten Einkaufsstraße Istiklal, wurde ein schwarzes Transparent mit einem Text über den „heimtückischen Bombenanschlag der Terroristen“ aufgehängt. Für die Opfer – sechs Menschen, darunter zwei Mädchen im Alter von 9 und 15 Jahren – wird um Gottes Barmherzigkeit gebetet und die „Einheit und Solidarität der Nation“ gepriesen.
Auf der gesamten Länge der Istiklal wurde eine doppelte Reihe türkischer Flaggen aufgestellt, alle 4 Meter eine. An der Stelle, an der die Bombe explodierte, hängt ein rotes Tuch, auf das Passanten Blumen werfen. Fernsehteams gehen den ganzen Tag ihrer Arbeit nach, während die Bürger ihre Smartphones als Instrumente des Mitgefühls nutzen.
Kurz vor dem Knall war die später festgenommene junge Frau am Sonntagnachmittag hierher geflüchtet. Sie stammt laut Polizei aus Syrien und soll von der türkisch-kurdischen Bewegung PKK ausgebildet worden sein. Innenminister Süleyman Soylu verwies auf Nordsyrien. Das ist in den Händen der syrisch-kurdischen Miliz YPG, aber laut türkischer Regierung sind YPG und PKK ein Topf nass.
Keine zivilen Ziele
Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Die PKK hat Recht mit der Behauptung, dass die Bewegung niemals zufällige Zivilisten tötet. Ziele der PKK sind in der Regel Staatsdiener. Die YPG ist auch nicht für Terroranschläge vom Typ Istiklal bekannt.
Allerdings erlebte die Metropole zwischen 2015 und 2017 eine Reihe äußerst blutiger Anschläge, die teils von muslimischen Extremisten, teils von militanten Kurden verübt wurden. Beispielsweise zündeten sie im Dezember 2016 eine Autobombe in einem Fußballstadion; 39 Menschen starben. Diese Angriffe wurden jedoch von der TAK, einem radikalen Ableger der PKK, für sich beansprucht. Aber auch hier gilt für die türkische Regierung: Ein Topf nass.
Was sind die politischen Folgen des Angriffs auf der Grundlage des kurdischen Szenarios? Das kurdische Lager – PKK und YPG – scheint sich nicht zu vertragen. Innerhalb und außerhalb der Türkei werden die kurdischen Militanten nicht profitieren (mit der Anmerkung, dass dasselbe immer für die Gewalt gilt, für die sich die PKK einschreibt).
Neue Invasion in Nordsyrien
Anders sieht es bei der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan aus. Die Türkei droht seit Monaten mit einer neuen Invasion der türkischen Armee in Nordsyrien. Die Notwendigkeit dafür lässt sich nun leichter nach außen demonstrieren. In den Gesprächen mit Schweden über die NATO-Mitgliedschaft kann die Türkei nun noch deutlicher betonen, dass die türkischen Bedenken hinsichtlich des kurdischen Terrorismus ernst genommen werden müssen.
Schließlich gibt es im nächsten Juni die türkischen Wahlen. Nicht wenige Türken – natürlich keine Erdogan-Anhänger – verkünden mit dem nötigen Zynismus, dass die Türkei im Vorfeld von Wahlen wie durch ein Wunder immer wieder mit Anschlägen zu kämpfen hat. Davon kann die Regierungspartei als Hüterin der Nation profitieren.