Den Dirigenten loswerden und auswendig spielen: Das Pynarello-Orchester macht alles anders

1707172205 Den Dirigenten loswerden und auswendig spielen Das Pynarello Orchester macht alles


Orchester Pynarello probt „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg. Rechtsbratscher Michiel Wittink.Bild Pauline Niks

Amsterdam, ein Proberaum, Samstagmorgen. Zwanzig Streicher des Pynarello-Orchesters kommen zum ersten Mal zusammen, um zu planen Erklärabend, Arnold Schönbergs schwül-romantisches Meisterwerk. Bald geht es auf Tour von Tilburg nach Groningen und wird derzeit getestet und besprochen. Es fällt sofort auf: Es ist kein Schaffner in Sicht. Jeder bringt Vorschläge ein, mit Vorschlägen wie: Können wir es versuchen…, Ich würde gerne…, Mir fällt auf…

So demokratisch geht es bei Pynarello zu, dem Kollektiv, das die Orchesterpraxis überarbeitet. Also weg mit dem Dirigenten. Spielen Sie nicht im Sitzen, sondern im Stehen. Und das Rebellischste: alle Noten auswendig spielen, wenn nötig ganze Sinfonien. Aber warum will ein Orchester das? Ist es nicht schwierig und stressig? Und was bringt es?

Bei der ersten Erkundung von Erklärabend Alle sitzen immer noch auf einem Stuhl, die Zettel vor der Nase. Sehr effizient, sagt Geigerin Lonneke van Straalen, wenn man von einem Delay in Größe 94 spricht. Van Straalen gründete Pynarello im Jahr 2017. Auf den Namen kam sie, als sie ein Fahrrad der italienischen Sportmarke Pinarello sah. Ihre ersten echten Erfahrungen machte sie mit dem Aurora Orchestra in London. „Sie spielten im Stehen und ohne Pulte.“ Ich fand es befreiend. „Man wird agil, kann sich umdrehen und nimmt Kontakt zu allen auf.“ Bratschist Michiel Wittink fügt hinzu: „Man sieht nicht nur besser aus, sondern hört auch besser zu.“ So kommt man schneller zum Kern des Musikmachens: der Verbindung.“

Aber wie merkt man sich Tausende von Notizen?

Van Straalen: „Manchmal reden wir untereinander darüber: Wie gehen Sie da vor?“ Jeder verfolgt eine andere Strategie. Eine Person hat ein fotografisches Gedächtnis und kann die Notizen vor sich sehen. Ein anderer nutzt sein Muskelgedächtnis: Die Bewegungen, die man beim Lernen macht, nutzen sich langsam ab. Noch ein anderer nutzt das musikalische Gedächtnis: Wohin führt diese Melodie? Oftmals handelt es sich aber auch um altmodische Stempelungen. Ich erinnere mich, dass ich mich wochenlang mit den komplexen, widerspenstigen Rhythmen Strawinskys beschäftigt habe Sacre du printemps.‘

„Jetzt verstehen Sie sofort“, sagt Cellistin Emma Kroon, „warum wir nicht jede Woche oder jeden Monat ein neues Programm mit Pynarello spielen können.“ Dann bekommst du ein gebratenes Gehirn.‘

Verursacht es zusätzlichen Stress?

Kroon: „Nach jedem Projekt führen wir eine Umfrage unter den Spielern durch. Es stellt sich auch die Frage: Spüren Sie mehr Spannung, weil Sie auswendig spielen? Immer wieder stellt sich heraus, dass das nicht der Fall ist.“

Bratschist Wittink: „Als ich zum ersten Mal mitgemacht habe, dachte ich trotzdem: Wird das klappen?“ Besonders im Vorfeld der ersten Probe oder kurz vor einem Konzert. Aber dabei habe ich gelernt, wie erstaunlich leistungsfähig das menschliche Gedächtnis ist.“

Cellist Kroon: „Und zerstören Sie nicht das Gruppengefühl.“ In Pynarello herrscht großes gegenseitiges Vertrauen. Natürlich wird manchmal jemand vor lauter Begeisterung ohnmächtig oder verrückt. Nun ja, das passiert auch in anderen Orchestern. Und Sie wissen, dass die Gruppe sich um Sie kümmern wird.‘

Das Orchester Pynarello ist demokratisch organisiert.  Bild Pauline Niks

Das Orchester Pynarello ist demokratisch organisiert.Bild Pauline Niks

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf Ihr Vorgehen?

Michiel Wittink: „Bei einem Konzert merkt man sofort, dass die Dynamik anders ist, schon weil der Notenständer als physisches Hindernis fehlt.“ Das Publikum merkt sofort, dass wir es wagen, uns der Musik hinzugeben.“

Van Straalen: „Manchmal vermisse ich den direkten Kontakt, wenn ich mit anderen Orchestern spiele, egal wie fantastisch ein Konzert sein kann.“ Sie betreten das Museum durch den Künstlereingang und verlassen es über den Künstlereingang. Dann denke ich: Aber für wen habe ich eigentlich gespielt? Deshalb findet man nach einer Aufführung ganz Pynarello im Foyer.“

Kann man jedes Orchesterstück auswendig lernen?

Van Straalen: „Ich weiß nicht, warum nicht.“ Die einzige Einschränkung, die ich sehe, ist die Oper. Sie sitzen alle im Orchestergraben und erfahren nicht, was die Sänger über Ihnen auf der Bühne tun. „Der Proben- und Produktionsprozess einer Oper ist so langwierig und kompliziert, dass das Spielen vom Notenpult mit einem Dirigenten tatsächlich sinnvoll ist.“

Cellist Kroon: „Aber nicht jedes Orchesterstück ist gleich einprägsam.“ Für Beethovens Fünfte Symphonie Du kannst mich mitten in der Nacht wecken und ich spiele gleich den Cellopart. Aber es gibt auch Teile, die ich einen Monat später nicht mehr beherrsche. Kannst du noch mal von vorne anfangen?‘

Valentinstagstour

Ab dem 7. Februar wird Pynarello mit dem Programm durch das Land touren Ode an die Liebe. Im Mittelpunkt steht das Streichwerk Arnold Schönbergs Erklärabend. Die Sopranistin Jeanette van Schaik singt Liebesarien und die Autorin Naomi Grant bringt Romantik in die Gegenwart. Pynarello erhielt kürzlich The Ovation, den Preis für das beeindruckendste klassische Konzert der Saison 2022–2023.



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