Das Mittelmeer ist nicht nur ein Friedhof, sondern auch eine Goldmine – daran ändert die EU-Politik wenig

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Ein Schiff voller Migranten ist diese Woche in Griechenland gesunken. Mehr als 100 Menschen wurden gerettet, 78 Leichen wurden geborgen. Aber es befanden sich schätzungsweise 750 Menschen auf dem Boot. Eine Tragödie vor den Augen der EU-Grenzagentur Frontex.

Rosa van Gool

Das Mittelmeer ist seit Jahren ein Friedhof für Flüchtlinge und Migranten, doch die Katastrophe vor der griechischen Küste gilt als die tödlichste seit 2015, als ein Fischerboot mit 900 Menschen an Bord vor den libyschen Gewässern kenterte und nur 28 Menschen am Leben blieben .

Am vergangenen Mittwoch sank etwa neunzig Kilometer von der griechischen Stadt Pylos entfernt ein Boot mit rund 750 Menschen an Bord. Es ist das zweite große Schiffsunglück eines Flüchtlingsbootes in diesem Jahr. Ende Februar explodierte in der Nähe der süditalienischen Stadt Cutro vor der Küste Kalabriens ein hölzernes Fischerboot mit 300 Passagieren. Mindestens 94 Menschen starben.

Die Tragödie vor der italienischen Küste und die jüngste Katastrophe vor Griechenland weisen verblüffende Ähnlichkeiten auf. In beiden Fällen scheint beispielsweise die EU-Grenzagentur Frontex eine entscheidende und fragwürdige Rolle zu spielen.

Über den Autor
Rosa van Gool ist Korrespondentin für Italien, Griechenland und den Balkan de Volkskrant. Sie lebt in Rom.

Das Fischerboot vor der Küste Kalabriens wurde erstmals im Februar von einem Frontex-Flugzeug gesichtet. Die Grenzbehörde sagte, sie habe nur eine Person an Deck gesehen und gehe nicht davon aus, dass sich das Boot in Seenot befinde. Es gab also auch kein Signal an die Küstenwache.

Diese Entscheidung ist bemerkenswert, weil auch aufgrund von Wärmebildkameras im Flugzeug der Verdacht bestand, dass sich viele Menschen auf dem Unterdeck befanden, und weil festgestellt wurde, dass keine Schwimmwesten vorhanden waren. Da Frontex das Boot nicht als „in Seenot“ kennzeichnete, tat dies auch die italienische Koordinierungszentrale nicht, trotz des heftigen Sturms, der kurz darauf einsetzte.

Eine vergleichbare Dynamik scheint es vor der griechischen Küste gegeben zu haben. Frontex hatte das Boot bereits am Dienstag aus der Luft signalisiert, es jedoch trotz offensichtlicher Überladung und fehlender Schwimmwesten nicht sofort als „in Seenot“ eingestuft. In Ermangelung einer rechtzeitigen großangelegten Rettungsaktion verweigerte das Schiff laut Aussage der griechischen Küstenwache „die Hilfe, weil es nach Italien wollte“.

In den kommenden Monaten müssen strafrechtliche Ermittlungen sowohl in Italien als auch in Griechenland mehr Klarheit über die genauen Umstände und Schuldigen der fehlenden Hilfe bringen, die zu Hunderten Todesfällen geführt hat.

Tunesien-Deal hilft nicht

Doch in der Zwischenzeit kommen die großen Fischerboote weiter und riskieren jedes Mal eine weitere Tragödie. Das gekenterte Boot in der Nähe von Griechenland verließ den Osten Libyens, das Schiff in der Nähe von Cutro kam aus der Südtürkei. Ein Deal mit Tunesien, wie ihn die EU nun anstrebt, wird daher nicht dazu beitragen, diese Dramen zu verhindern.

Schmuggler auf der türkischen und ostlibyschen Route wählen bewusst nicht die kürzeste Überfahrt nach Europa. Das wären die griechischen Inseln, lieber segeln sie aber weiter nach Italien. Vermutlich, weil dort keine Rückschläge zu befürchten sind, aber auch, weil es mehr Beschäftigung gibt. Darüber hinaus ist es einfacher, von Italien aus in andere europäische Länder zu reisen, wie dies für einen Großteil der Flüchtlinge und Migranten nach der Seereise der Fall ist.

Die griechische Küstenwache bringt Leichensäcke an Land.Bild Reuters

Nach Angaben von Überlebenden kostete ein Ticket für das tödliche Boot fünftausend Euro pro Person. Das Mittelmeer ist daher nicht nur ein Friedhof, sondern auch eine Goldmine. An der zunehmend restriktiveren EU-Politik hat sich in den letzten Monaten daran kaum etwas geändert. Es führt vor allem zu mehr Todesfällen.

Und es hat zu einem zynischen Versteckspiel zwischen den Küstenwachen rund um das Mittelmeer geführt. Denn hätte das Boot noch ein Stück weiterfahren können – was die griechische Küstenwache vielleicht vermutet hätte, einige Zeugen zufolge hätten sie das Boot sogar ein Stück in Richtung Italien gezogen –, wäre die Rettung in die Verantwortung der Italiener gefallen. Die Strategie der Verantwortungsverschiebung wird seit einigen Jahren auch auf Malta praktiziert.

Die kleine Insel verfügt über eine riesige Such- und Rettungszone. Die sogenannten SAR-Zonen erstrecken sich weit über die Hoheitsgewässer hinaus. In dieser Zone ist ein Land für die Koordinierung der Rettungsaktionen verantwortlich. Doch wenn es um Flüchtlingsboote geht, weigert sich Malta oft, dieser Pflicht nachzukommen.

NGO-Rettungsschiffe berichten, dass das maltesische Koordinierungszentrum einfach nicht ans Telefon geht. Manchmal führt dies dazu, dass das italienische Koordinierungszentrum den Betrieb in der maltesischen SAR-Zone übernimmt. In anderen Fällen scheint Malta die Augen zu verschließen und inzwischen darauf zu zielen, dass die libysche Küstenwache die Boote zurückschleppt, wie Ende Mai bei einem Fischerboot mit 500 Menschen an Bord.

Die Flüchtlingsboote im Mittelmeer sind Teilnehmer einer tödlichen Lotterie. Wenn Sie Glück haben, werden Sie rechtzeitig als „in Seenot“ gekennzeichnet und von einem NGO-Schiff oder einer nationalen Küstenwache gerettet. Denn trotz des Scheiterns bei Cutro hat die italienische Küstenwache auch in diesem Jahr viele Tausende Menschen sicher an Land gebracht, obwohl sie diese Arbeit lieber geheim hält. Wer Pech hat, ertrinkt. Solange es in Europa keinen politischen Willen gibt, die Qualität und Kapazität der Rettungseinsätze im Mittelmeer zu erhöhen, werden weiterhin namenlose Gräber hinzukommen.



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