Das Holland Festival beginnt mit einer überwältigenden Anklage gegen unseren Umgang mit Tieren

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Kathryn Hunter und die Firma Complicité in „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“.Bild Camilla Adams

Stimmt etwas mit uns nicht? Ja, sagt Janina Duszejko, die Erzählerin im Roman Fahren Sie mit Ihrem Pflug über die Knochen der Toten (ins Niederländische übersetzt als Fahren Sie mit Ihrem Pflug über die Knochen der Toten). In diesem „feministischen Ökothriller“ der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk erzählt Duszejko von ihrem Leben in einer abgelegenen polnisch-tschechischen Grenzstadt am Waldrand. Der scharfsinnige Sechziger, Englischlehrer und Amateurastrologe, schildert bissig und selbstironisch die enge, patriarchalische Dorfgemeinschaft. Anders als ihre Nachbarn lebt Janina in völliger Harmonie mit der sie umgebenden Natur und macht keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier – alle Lebewesen sind ihr gleich. Dies bringt sie unweigerlich in Konflikt mit dem örtlichen Jagdverein.

„Kann das, ist das wirklich geschehen, dieser Horror, dieses große, schreckliche, gleichgültige, mechanische Massaker, ohne jegliche Skrupel, ohne die geringste Überlegung?“, schimpft sie über Jäger, Züchter, Wilderer, Schlächter, ausnahmslos den Menschen. „Was ist das für eine Welt, in der Mord und Schmerz die Norm sind? Stimmt etwas mit uns nicht?‘ Und dann beginnt das Sterben. Ist die Welt verrückt oder wird diese Frau verrückt? Rächen sich die Tiere an den Menschen?

Über den Autor

Herien Wensink ist künstlerischer Leiter von de Volkskrant und Theaterkritiker. Sie schreibt über Theater, Film, Serien und Popkultur im weiteren Sinne.

Rache-Horror und doch witzig

Der gefeierte, gefeierte Regisseur Simon McBurney (65), Magier von Licht und Ton, verwandelt Tokarczuks Buch gekonnt in eine dynamische, bezaubernde, überwältigende Gesamtbühne. Sein schwindelerregender Auftritt mit seiner Kompanie Complicité und der unendlich faszinierenden Kathryn Hunter in der Hauptrolle eröffnet das Holland Festival. Eine Performance über Geschlecht, Moral, Vergänglichkeit, Gerechtigkeit, Leben und Tod. Gothic Rache-Horror mit einem Hauch von Agatha Christie, und außerdem: eine witzige und kluge Anklage gegen unser Verhältnis zu Tieren und Natur. „Hunter“ in der Hauptrolle, das ist ein wunderbarer Zufall.

McBurney las das Buch, nachdem Tokarczuk den Nobelpreis erhalten hatte, und verliebte sich Hals über Kopf in diese „wunderbare, aktivistische Klimafabel“. Erstens wegen der markanten Hauptfigur. „Eine kluge, witzige und freimütige ältere Frau, Mitte sechzig, wie oft sehen wir sie in der Kunst als Erzählerin und Protagonistin?“ fragt McBurney rhetorisch eine Handvoll Journalisten in einem Zoom-Gespräch. „Unsere westliche Gesellschaft ist von der Jugend besessen und neigt dazu, diese Kategorie von Frauen strukturell zu übersehen.“ Ich erinnere mich an meine Mutter, als sie in den Sechzigern war und sich zu ihrer großen Enttäuschung völlig unsichtbar fühlte. Doch das Gute an Janina Duszejko ist, dass sie ihre Unsichtbarkeit für einen höheren Zweck nutzt. Sie macht es zu ihrer Supermacht und nutzt sie als Waffe gegen diejenigen, die sie für irrelevant erklären.‘

Simon McBurney: „Eine kluge, witzige und freimütige ältere Frau, Mitte sechzig. Wie oft sehen wir sie in der Kunst als Erzählerin und Protagonistin?“  ImagefilmMagic

Simon McBurney: „Eine kluge, witzige und freimütige ältere Frau, Mitte sechzig. Wie oft sehen wir sie in der Kunst als Erzählerin und Protagonistin?“ImagefilmMagic

In der Form seines Auftritts spielt McBurney mit dieser Tatsache und mit dem möglichen Unbehagen eines Publikums, das von dieser kämpferischen älteren Frau direkt angesprochen, ja sogar angeprangert wird. Er tut dies, indem er ihr ein Mikrofon gibt und sie durch die vierte Wand mit dem Publikum sprechen lässt, wie ein Stand-up-Comedian, was ihr mit ihrem trockenen Humor und selbstironischen Humor durchaus zugeschrieben werden könnte. McBurney: „Und natürlich ist auch hier das Mikrofon ein wichtiges Symbol.“ Denn wer das Mikrofon hat, hat das Wort und kann sich am besten verständlich machen.“


Nicht umsonst wird ihr während des Auftritts mehr als einmal das Mikrofon gestohlen. Oder spricht da ein anderer Politiker, der die Sache nicht loslassen will? Im Gespräch mit dem Publikum verspricht ein solcher Mann Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze, während er nebenbei den Klimawandel leugnet.

McBurney: „Das Mikrofon ist intim und durchdringend, unausweichlich, man muss nur zuhören.“ Und die Sache hat auch politische und juristische Konnotationen: Denken Sie an einen Zeugen vor Gericht oder einen Aktivisten auf einer Seifenkiste.“

Wegschauen unmöglich

Janina Duszejko ist ebenfalls Aktivistin. Wenn sie spricht, dann im Namen der Rehe, Hirsche, Dachse, Hasen und Wildschweine in der Gegend. Sie beschreibt sie zärtlich, liebevoll, einfühlsam. Ihre Augen, ihre Haltung, ihr Blick. Sie beschreibt den qualvollen Märtyrertod in der Schlinge. Tokarczuk zwingt Sie, ganz nah heranzukommen und ihre Schönheit und ihr Leiden zu sehen. Dadurch ist es unmöglich, wegzuschauen. Warum tun wir das anderen Wesen an? Tokarczuk setzt ihr ganzes literarisches Talent ein, um die Thematik greifbar zu machen. Cleverer Fund: Sie bringt Janina immer wieder dazu, liebevoll von „meinen Mädchen“ zu sprechen. Es dauert eine Weile, bis dem Leser klar wird, dass es hier nicht um Töchter, sondern um Hunde geht.

Wenn Janina beim Metzger einen Tierkadaver sieht, ist es, als würde sie eine Leiche hängen sehen. Als sie bei ihrem grausamen Nachbarn Bigfoot einen Hirschkopf findet, ist es, als würde sie den abgetrennten Kopf ihrer Schwester auf der Fensterbank sehen. Tokarczuks Sprache ist so eindringlich, dass dies auch der Leser nach und nach zu spüren beginnt. Vorher schien die Umsetzung ins Theater eine Herausforderung zu sein: Wie bringt man diese Mensch-Tier-Verwirrung richtig zur Geltung? Wie beseitigt man die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier auf der Bühne?

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Bild Mark Brenner

Stand der Technik

McBurney und seine Kompanie Complicité machen geniale Erfindungen, die Tiere und Natur im Theater unweigerlich zum Leben erwecken. Dafür nutzt er neue und alte Techniken.

Ein ausgeklügeltes Beleuchtungskonzept zaubert einen riesigen Sternenhimmel. Dank Videoprojektionen wähnt sich der Betrachter in einem dunklen, bewegten, atmenden Wald. Die modernste Tontechnik bringt Janinas knirschende Schritte im Schnee bedrückend nah – sie haucht einem warme Nebelwolken ins Ohr. Unsichtbare Vogelflügel rascheln im Laub. McBurney spielt ein geschicktes Spiel aus hellem Licht und Dunkelheit – Szenen tauchen aus der Dunkelheit auf und Zeiten und Orte gehen nahtlos ineinander über.

Es hat etwas Paradoxes, wie McBurney und sein Team modernste Theatertechniken nutzen, um die Natur so überzeugend ins Theater zu bringen. „Eigentlich sollte man diese Aufführung auf einer offenen Fläche im Wald spielen, ohne jegliche Technik“, sinniert er. Das wäre das Fairste, das Konsequentste. Aber wir haben uns genau wegen der Wirkung entschieden, die Technologie haben kann. Nehmen Sie etwas wie TikTok, das geht einem wirklich in den Sinn; Technologie kann unser Gehirn übernehmen. Also ließen wir die Technologie sozusagen in den Betrachter eindringen. Wir wollen in den Kopf und unter die Haut des Publikums vordringen, ins Unterbewusstsein vordringen, die Schönheit und Bedeutung der Natur hervorheben. „Wir nutzen den manipulativen Aspekt der Technik für einen edlen Zweck.“

Schauspieler als Tiere in der Show „Drive Your Plough over the Bones of the Dead“.  Bild Camilla Adams

Schauspieler als Tiere in der Show „Drive Your Plough over the Bones of the Dead“.Bild Camilla Adams

Schauspieler wie Fuchs, Hund, Vogel oder Hirsch

Doch die wichtigste Erfindung, mit der McBurney sein Publikum verführt, ist so alt wie das Theater selbst. Der Regisseur lässt seine Schauspieler nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere spielen: Sie verwandeln sich überzeugend in Fuchs, Hund, Vogel oder Hirsch. Das klingt kindisch, funktioniert hier aber geradezu bezaubernd. Ein Spieler kreist wie ein nervöser Hund um den Tisch. In den Händen der Schauspieler verwandeln sich flatternde Büchlein in einen Vogelschwarm. Zwei schöne, große Schauspielerinnen zielen gleichzeitig – große Augen, scheuer Blick und falten ihre Finger in Hirschgeweihen. Es ist ein einfacher, aber schöner Triumph der Fantasie. Später, auf einem Maskenball, verkleidet sich Janina wortgewandt als Wolf.

Indem die Menschen die Tiere buchstäblich verkörpern, wird die Unterscheidung im Theater noch diffuser, die moralische Verwirrung noch größer. Warum wird ein Mord begangen, während der andere ungestraft bleibt? Wie kann das gerechter sein? Dieser Reporter beschloss während eines Auftritts in London zur Hälfte des Auftritts, nie wieder Fleisch zu essen (wir sind fast zwei Monate später und bisher so gut). So überzeugend kann Kunst sein.

Tokarczuks Buch stammt aus dem Jahr 2009, und McBurney sieht nun einerseits größere Naturkatastrophen um sich herum und andererseits ein zunehmendes Bewusstsein für die Rolle und den Einfluss des Menschen. „Glücklicherweise ändern sich die Dinge endlich, zum Beispiel in der Vorstellung, dass die Natur etwas außerhalb von uns ist, statt in uns und überall um uns herum.“ Endlich sehen wir unsere eigene, untrennbare Verbindung mit dem Planeten. Der Anthropozentrismus gerät ins Wanken; Dies ist eine Zeit des Übergangs zu etwas Neuem. In diesem Sinne waren Tokarczuk und ihre Protagonistin ihrer Zeit voraus.“

Vorwürfe des „Öko-Terrorismus“

Tokarczuk, sagt er, regt uns zum Nachdenken über die verschiedenen Formen physischer, politischer, religiöser und wirtschaftlicher Macht an, die das gegenwärtige destruktive System stützen. Und sie untersucht die Notwendigkeit, sich dagegen zu wehren. „Was läuft in unserer Gesellschaft falsch, wogegen sollten wir kämpfen?“ Sie zeigt etwas schematisch, aber durchaus überzeugend die verheerende Wirkung „männlicher“ (kapitalistischer, patriarchaler, neoliberaler) Kräfte und die Rache von Mutter Erde. Es ist kein Zufall, dass in dem Buch die (männlichen) Repräsentanten der Macht einer nach dem anderen sterben. In ihrem Heimatland Polen wurde ihr „Ökoterrorismus“ vorgeworfen. McBurney verächtlich: „Aber es ist eine Fabel; magischer Realismus. Es ist „nur“ Fiktion; es ist ‚nur‘ Kunst.“

Simon McBurney und Complicite

Man kann Simon McBurney getrost als Weltstar bezeichnen. Seine 1983 gegründete (britische) Kompanie Complicité hat zahlreiche internationale Theaterpreise gewonnen und spielt auf der ganzen Welt. McBurney ist Gastregisseur an großen Theatern von Deutschland bis Japan. Als Schauspieler wirkte er in mindestens fünfzig Filmen und Serien mit. In den Niederlanden leitete er die De Nationale Opera (ua). Die Zauberflöte) und International Theatre Amsterdam (Der Kirschgarten). Seine Arbeiten wurden bereits zweimal beim Holland Festival gezeigt.

Andererseits hat Janina Duszejko inzwischen den Bereich der Kunst überschritten. Ihr Name ziert regelmäßig die Banner von Klimaaktivisten, die sich ihr Engagement und ihre Kampfbereitschaft als Vorbild nehmen. Duszejko ist eine Figur, die den Übergang in die reale Welt geschafft hat und dort tatsächlich symbolisch etwas bedeutet.

In der Rolle von Kathryn Hunter tritt sie auch furchtlos ins Rampenlicht auf der Bühne, der gelbbraune Körper ist in ein weißes Nachthemd gehüllt, das in der Nacht gespenstisch leuchtet. Mit heiserer Stimme bringt sie ihre Unzufriedenheit, ihre Wut, ihren Spott und ihre grundlegende, dringend notwendige Gesellschaftskritik hemmungslos zum Ausdruck. Und wir hören zu. Janina Duszejko ist nicht mehr unsichtbar, und das sind gute Nachrichten.

Kathryn Hunter

Kathryn Hunter (65) ist eine gefeierte griechisch-britische Bühnen- und Filmschauspielerin. Sie spielte Dutzende wichtiger Rollen im Theater und war die erste britische Schauspielerin, die Shakespeares Rolle spielte König Lear interpretiert. Hunter erlangte weltweite Berühmtheit als Arabella Figg, Harry Potters exzentrische Nachbarin. Simon McBurney ist auch dabei Harry PotterSerie, als Stimme des Hauselfen Kreacher. Hunter erhielt kürzlich Lob für ihre Darstellung der Hexen in Joel Coens Film Die Tragödie von Macbeth (2021).

Fahren Sie mit Ihrem Pflug über die Knochen der Toten, Vein Simon McBurney in Zusammenarbeit mit Complicité, basierend auf dem Buch von Olga Tokarczuk. 1 bis 3/6 beim Holland Festival.



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