Countdown bis zum Auslaufen von Trumps Grenzmaßnahme: Sturm oder Sturm im Wasserglas?

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An der Grenze zu Mexiko ist die Atmosphäre in Texas am Donnerstagabend angespannt. Pünktlich um 22 Uhr endet der Corona-Notstand und damit auch die Grenzmaßnahme, die Migranten wahllos fernhielt. Wird ein Sturm folgen oder ein Sturm im Wasserglas?

Thomas Rubb

Der dünne Schrei einer Drohne durchschneidet die Stille. Vier Männer in Tarnkleidung, die Hände an ihren Waffen, folgen dem Weg des Kolosses durch den dunklen Himmel. Sie sind auf zwei Seiten von Tür 40 angebracht, einer schmalen Grenzöffnung in der texanischen Wüste.

Wie ein rostiger Kamm ragt die Mauer aus der trockenen Landschaft hervor. Zwischen den Gitterstäben erstreckt sich Mexiko. Irgendwo im Dunkeln haben sich in den letzten Wochen Tausende von Migranten für genau diesen Moment versammelt.

Die letzten Minuten von Titel 42 haben gerade begonnen: die berüchtigte Regel, nach der die Vereinigten Staaten jahrelang Asylsuchende ohne Gerichtsverfahren abschoben. Niemand weiß, was jetzt passieren wird. Ein Ansturm ist die große Angst.

Über den Autor
Thomas Rueb ist der USA-Korrespondent für de Volkskrant. Er lebt in New York. Er ist der Autor des Buches Laura H.

Präsident Joe Biden schickte 1.500 Soldaten an die mexikanische Grenze. Städte wie New York und Washington D.C. weit im Norden schufen zusätzlichen Schutzraum. Hier, rund um die Grenzstadt El Paso, wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. „Wir bereiten uns auf das Unbekannte vor“, sagte Bürgermeister Oscar Leeser diese Woche. „Wir wissen nicht, wer kommt.“

Unruhig schreiten die Soldaten vor dem Tor hin und her. Die Drohne verschwindet aus dem Blickfeld und die Nacht wird wieder still. Es ist Donnerstagabend, 21:50 Uhr. Noch zehn Minuten.

Unklares Maß

Dieser Moment markiert das Ende einer der umstrittensten Asylpolitik in der amerikanischen Geschichte. Im Jahr 2020 sah Präsident Donald Trump die Gelegenheit, einen sehnlichen Wunsch zu verwirklichen: Migranten wahllos abzuschieben. Jedes internationale Abkommen seit dem Zweiten Weltkrieg verbietet das, doch die Corona-Pandemie hatte alles auf den Kopf gestellt.

Trump hat Titel 42, eine obskure Maßnahme aus dem Jahr 1944 zum Schutz der öffentlichen Gesundheit, entstaubt. Dies ermöglicht es, im Notfall Menschen mit einer möglichen ansteckenden Krankheit fernzuhalten. Trumps Denkweise: Damit sind während einer globalen Pandemie alle gemeint.

So geschah es. Migranten, denen es bis auf wenige Ausnahmen gelang, die USA zu erreichen, wurden sofort und ohne Asylverfahren über die Grenze überstellt. Das führte zu erbärmlichen Lagern in Mexiko und zu Herzensschreien von Menschenrechtsgruppen, Demokraten und insbesondere Joe Biden.

Migranten warten am Donnerstag an der US-Grenze darauf, dass der Ausnahmezustand aufgehoben wird und sie einen Asylantrag stellen können.Bild AFP

Als Kandidat versprach Biden eine „faire, geordnete und menschliche“ Asylpolitik. Doch die Realität holte ihn ein. Nach seinem Amtsantritt stieg die Zahl der Migranten auf historische Ausmaße und erreichte 2022 einen neuen Rekord. Im vergangenen Jahr überquerten mehr als 2,7 Millionen Migranten die mehr als 3.100 Kilometer lange Südgrenze. Sie kamen aus maroden lateinamerikanischen Ländern wie Venezuela, Kuba, Haiti und Nicaragua, aber auch aus Afghanistan, China, Russland und der Ukraine – sie wurden vom Versprechen eines „humaneren“ Präsidenten angezogen. Aber es stellte sich heraus, dass es nicht Biden war.

Angesichts einer neuen Migrationskrise änderte Biden kaum etwas. Er unternahm einen halbherzigen Versuch, Titel 42 zu stoppen, aber republikanische Grenzstaaten klagten und gewannen. Jetzt sind sie es, die das Ende eingeläutet haben. Seit Monaten fordern die Republikaner wegen der damit verbundenen Corona-Maßnahmen die Aufhebung des medizinischen Notstands. Biden gab ihnen den Weg. Doch mit der Aufhebung des Ausnahmezustands am Donnerstagabend verschwindet auch die Rechtsgrundlage für Titel 42.

„Lass los, Mann!“

Fünf weitere Minuten. Der warme Wind weht einen durchdringenden Abwassergeruch vom Rio Grande, dem Fluss, der die beiden Länder trennt. Weiße SUVs patrouillieren am Grenzzaun. Im Scheinwerferlicht erstrahlt die Grenzmauer in einem gespenstischen Glanz.

Folgen Sie der Wand ab Tür 40 Ein paar Meilen und Sie landen in El Paso. Seit Jahren ist diese texanische Grenzstadt ein Symbol für die gescheiterte US-Asylpolitik. Täglich streifen Hunderte von Vertriebenen in verschiedenen Elendsstaaten durch die Straßen und warten auf Asyl, Abschiebung oder die Chance, unter dem Radar zu verschwinden. Doch davon ist am Vorabend des Sturms nichts zu sehen. So sieht eine Grenzstadt in Panik aus: makellos sauber.

Anfang dieser Woche war der Lateinamerika-Korrespondent Joost de Vries auf der mexikanischen Seite der Grenze. Lesen Sie hier seinen Bericht.

Hier können Sie sehen, wie vorbereitet dieser Tag ist. Angesichts des gefürchteten Zustroms von Zehntausenden Migranten und der Kameras der Weltpresse mussten die Straßen leer sein. Das ging mit einer weichen oder harten Hand. Die sanfte Sache: Agenten verteilten Flugblätter, auf denen stand, dass Migranten, die sich stellten, nicht abgeschoben würden. Das Schwierige: Lager wurden aufgelöst, Verweigerer verhaftet und ihr Hab und Gut – Kleidung, Taschen und Schlafsäcke – gnadenlos weggeworfen.

Bewohnerin Linda Senchoway (64) hat ihre Stadt seit Jahren nicht mehr so ​​sauber gesehen. Und das macht sie wütend. „Macht nichts, Mann“, schreit sie einem Straßenkehrer zu. „Dort schlafen die Leute.“ Der Mann in der grünen Weste zuckt mit den Schultern. Er schleppt ein weiteres Knäuel schmutziger Schlafsäcke den Bürgersteig entlang und wirft es zusammen mit den anderen in seinen Einkaufswagen. ‚Verzeihung, Señora‚, murmelt er. ‚Abtretung.‘

Biden kann nicht gewinnen

Für Präsident Biden stand diese Woche viel auf dem Spiel. Migration ist eine der anfälligsten Dateien von Biden. Die Kritik klingt in seinem rechten und linken Ohr gleich laut. Jede Verschärfung der Politik wird von seinem progressiven Flügel als Verrat empfunden. Aber egal, was er tut, die Republikaner werden ihn in Sachen Migration immer weiter schlagen: Nur wenige Themen verärgern ihre weiße, konservative Basis so sehr.

Biden kann nicht gewinnen, und gleichzeitig macht das seine Entscheidung klar. Als unumstrittener Kandidat des demokratischen Establishments muss er sich im Jahr 2024 keinen ernsthaften Herausforderern innerhalb der Partei stellen – aber er muss einen Republikaner schlagen. Biden hat also von rechts deutlich mehr zu befürchten als von links.

Mit seiner neuen Asylpolitik nimmt der Präsident eine konservative Wendung, die sich nur wenige gewünscht hätten. Trotz der Hoffnungen der Migranten, die sich dieser Tage entlang der Grenze versammeln, wird es nicht viel milder werden.

Migranten, die durch andere Länder reisen, müssen jetzt unterwegs Asyl beantragen. Das gilt für fast alle an der Südgrenze: Schließlich haben sie Mexiko durchquert. Können sie nicht nachweisen, dass sie in mindestens einem anderen Land einen Versuch unternommen haben, werden sie sofort abgeschoben. Für Mexikaner gilt das nicht, aber sie haben kaum Chancen auf Asyl: In ihrem Land herrscht weder Krieg noch Hungersnot.

„Ein düsterer Tag für unser Land“

Dies stellt einen grundlegenden Bruch mit der seit dem Zweiten Weltkrieg verfolgten US-amerikanischen Asylpolitik dar. Nachdem die USA ein Boot voller jüdischer Flüchtlinge zurückgeschickt hatten, sollte so etwas nie wieder passieren. Jeder hätte zumindest eine Chance auf Asyl in den USA. „Dies ist ein trauriger Tag für unser Land“, sagte Jonathan Blazer von der American Civil Liberties Union zu Bidens Politik.

Bidens Politik zielt darauf ab, Migranten davon abzuhalten, an die Grenze zu kommen. Obwohl Migranten gemäß Titel 42 manchmal innerhalb von Minuten abgeschoben wurden, konnten sie es ungestraft erneut versuchen. Rückfall wird von nun an mit einem Einreiseverbot oder sogar einer Strafverfolgung geahndet.

Es gibt eine Gegenleistung. Biden möchte verfahrensrechtliche Wege zur legalen Beantragung von Asyl etablieren, was derzeit völlig fehlt. Zu diesem Zweck müssen in ganz Südamerika spezielle Zentren eingerichtet werden. Dann wissen Migranten, ob sie eine Chance auf Asyl haben, bevor sie sich auf die gefährliche Reise begeben und bevor sie an der Grenze für politische Unruhen sorgen.

Es ist Zeit

Allerdings scheint am Donnerstagabend noch nicht alles Elend aus El Paso verschwunden zu sein. In einer Gasse in der Altstadt, nur einen Steinwurf von der Brücke nach Mexiko entfernt, liegen Dutzende Männer, Frauen und Jugendliche auf Matten und alten Kleidern. Die Straße riecht nach dem Urin, der unter den Türen überfüllter Dixis fließt.

Die Menschen strömten in Scharen zur Herz-Jesu-Kirche, einem bis auf den letzten Platz gefüllten Schutzraum. Im Süden strahlen die pastellfarbenen Häuser der mexikanischen Partnerstadt Juárez. Im Norden erheben sich die Wolkenkratzer der amerikanischen Bankgebäude. Diese Migranten warten in einer Zwischenwelt. Aber worauf genau warten sie?

Sie ignorierten den Flyer, in dem sie aufgefordert wurden, sich vor Freitag zu stellen. Sie vertrauten nicht darauf, dass sie trotz des Versprechens nicht abgeschoben würden – sie gehen lieber ihr Risiko mit der neuen Politik ein.

Zehn Uhr abends. Es ist soweit: Titel 42 ist vorbei. Entlang der Grenzmauer ertönt im Takt der Uhr das Gegacker Dutzender Fernsehreporter. Sie erzählen ihre Geschichte im hellen Licht und zeigen hinter sich auf die dunkle Öffnung im Zaun. Aber nach ein paar Minuten hört es wieder auf. Niemand. Der Sturm geht weiter. Der erste Lackmustest von Bidens neuer Politik scheint für ihn gut geklappt zu haben.



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