Die „beleidigte Leberwurst“ ist in Kiew. Es hätte am Donnerstag ein Tweet des ausgesprochenen ukrainischen Botschafters in Berlin, Andriy Melnyk, sein können. Der Mann ist die Geißel der deutschen Politik, insbesondere von Bundeskanzler Olaf Scholz. Anfang dieses Jahres weigerte sich die Ukraine, den deutschen Präsidenten zu empfangen, ein beispielloser diplomatischer Affront. Als Bundeskanzler Olaf Scholz darüber seinen Unmut äußerte, ging Botschafter Melnyk noch einen Schritt weiter: Scholz agierte wie eine „beleidigte Leberwurst“†
Inzwischen hat der Bundespräsident Kiew besucht. Scholz folgte am Donnerstag zusammen mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Drei Regierungschefs aus drei großen europäischen Ländern kommen, um ihre Unterstützung zu zeigen, das ist wichtig, sagte Scholz selbst† Außerdem hat Deutschland der Ukraine in den letzten Wochen nach langem Zögern endlich schwere Waffen zugesagt: Artillerie, schwere Flugabwehrgeschütze und sogar drei fortschrittliche Raketensysteme. Letztere belieferten bisher nur die USA und Großbritannien.
In Kiew hatte Scholz sogar noch eine weitere Überraschung parat: Deutschland unterstützt den EU-Beitrittskandidaten der Ukraine, woran Scholz zuvor Zweifel geäußert hatte. Auch Frankreich stimmt nun dafür, Italien tritt seit längerem als Befürworter auf. Am Freitag wird die EU-Kommission dazu Stellung nehmen, nächste Woche entscheiden die Mitgliedsstaaten.
Aber wenn das Muster der letzten Monate einen prognostischen Wert für die Zukunft hat, ist die deutsch-ukrainische Kälte noch nicht vorbei. Im Vorfeld des Besuchs von Scholz twitterte Botschafter Melnyk, ein ungefilterter Sentimentalkanal in Kiew, bereits folgende ukrainische Beschwerde. Diesmal breitete er sich aus ein Meinungsartikel aus der Süddeutsche Zeitungin dem der Autor argumentierte, dass Deutschland zu wenig tue, um der Ukraine zu helfen.
„Viel zu wenig“, sagt Melnyk. „Wir brauchen dringend SCHWERE Waffen. Die Ukrainer hoffen, dass die Bundeskanzlerin nicht mit leeren Händen nach Kiew kommt.“
Weil es verdammt lange dauert mit Deutschland. Das ist, grob übersetzt, die Stimmung in Kiew in den letzten Monaten. Dasselbe Gefühl herrschte lange außerhalb Deutschlands, bei den USA und den europäischen Verbündeten Deutschlands. Berlin zögerte bei Rüstungslieferungen, trat bei Energiesanktionen auf die Bremse und warnte davor, dass der Weg der Ukraine in die EU „keine Frage von ein paar Monaten oder Jahren“ sei. ‚Es gibt keine Abkürzungen‘, sagte Scholz während einer Parlamentsdebatte im Mai†
Sich wälzen
Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine lautet das Muster in Deutschland: Zögern, Zögern, Umkehren, Umkehren. Im Vorfeld des Ukraine-Krieges weigerte sich die Bundesregierung, Waffen zu liefern, da sie historisch ungern in einen aktiven Konflikt verwickelt sei. Berlin schickte fünftausend Kampfhelme. Die Ukraine war wütend. Unmittelbar nach der russischen Invasion vollzog Deutschland eine historische Kehrtwende in seiner Außenpolitik, versprach, 100 Milliarden Euro in die eigenen Streitkräfte zu investieren, und hat seitdem Tausende leichter schultergestützter Panzerabwehr- und Flugabwehrraketen in die Ukraine geschickt.
Die Waffen halfen, den russischen Vormarsch auf Kiew zu stoppen, woraufhin Putin seine Aufmerksamkeit auf den Donbas richtete. Die Ukraine forderte schwere Waffen, um diesen Bodenkrieg zu bewältigen. Deutschland zögerte. Die Ukraine war wütend. Scholz wagte Ende April nach einem breiten parlamentarischen Appell den Sprung. Deutschland lieferte weiterhin mobile Gepard-Flugabwehrsysteme und schwere gepanzerte Haubitzen. Kürzlich kamen Zielsuchradarsysteme, das fortschrittliche Flugabwehrsystem IRIS-T und komplexe Raketensysteme hinzu. „Die Rückkehr der deutschen Führung“, frohlockte der ukrainische Präsidentenberater Mykhailo Podolyak auf Twitter.
Seitdem ist nichts davon eingetroffen, es gibt kaum noch Munition für die Gepard-Systeme. Die gepanzerten Haubitzen-Artilleriesysteme erforderten ein umfangreiches Training, werden aber bald endlich erwartet. Die anderen Systeme kommen wohl erst im Herbst – und wer weiß, ob die Ukrainer so lange durchhalten. Unterdessen hämmert die Ukraine seit Monaten auf weiterreichende Forderungen, mehr und noch schwerere Waffen, deren Lieferung Deutschland bislang verweigert: Marder-Kampffahrzeuge und Leopard-I-Panzer. Und dann berichtet Die Welt am Sonntag auch das sogar die Versorgung mit leichten Waffen ist seit Ende März weitgehend versiegt†
Die Frage ist also, ob die Versprechungen und Unterstützungsbekundungen von Scholz die Ukrainer noch einlenken können. Die Kanzlerin sagte am Donnerstag in Kiew langfristige finanzielle und humanitäre Unterstützung zu, „und ja, auch Waffen, solange der Unabhängigkeitskampf der Ukraine dauert“. Doch wenn seine Versprechungen nicht sehr bald konkreter werden, stehen die Chancen gut, dass der ukrainische Botschafter in Berlin das antauende deutsch-ukrainische Verhältnis bald wieder per Tweet ins Regal schiebt.