Berühre die Pizza und ganz Italien fällt über dich her: „Verräter. Wer hat dich bestochen?‘

Beruehre die Pizza und ganz Italien faellt ueber dich her


Ein Pizzabäcker in Neapel. Pizzerien gibt es im großen Stil erst seit den 1970er-Jahren, sagt der Lebensmittelhistoriker Alberto Grandi.Bild Rory Doyle

Pasta Carbonara? Eine amerikanische Erfindung, ermöglicht durch Speck, den die alliierten Soldaten nach 1943 mitbrachten. Marsala-Wein? Von Engländern erfunden. Antipasti? Ein französisches Konzept. Pizzerien also? Diese gebe es im großen Stil erst seit den 1970er-Jahren, sagt der Lebensmittelhistoriker Alberto Grandi (55). Er erinnert sich an die erste Eröffnung in der norditalienischen Stadt seiner Kindheit. „Für meinen Vater war es jetzt so etwas wie Sushi: ein exotisches Phänomen.“

Erzähl es nicht seinen Landsleuten. Das ganze Land fiel über ihn her, nachdem er letzte Woche ein Interview zu dem Thema gegeben hatte Finanzzeiten. Habe nie sein Buch über die Marketing-Fabrikationen rund um italienisches Essen bekommen (Denominazione di origine inventata, 2018) und dem gleichnamigen Podcast so viel Aufmerksamkeit wie jetzt. In einem römischen Restaurant hat Grandi sichtlich Freude an seiner Rolle als Mythenbrecher der italienischen Küche. An einem Teller Spaghetti all’amatriciana (einer der Klassiker, die seiner Meinung nach gar nicht so klassisch, aber glücklicherweise lecker sind) erklärt er, dass er nicht die Absicht hat, langsamer zu werden.

Alberto Grandi ist Professor für Lebensmittelgeschichte an der Universität Parma.  Bild ANP / Zuma Press

Alberto Grandi ist Professor für Lebensmittelgeschichte an der Universität Parma.Bild ANP / Zuma Press

Doch sein plötzlicher Ruhm hat auch dunkle Seiten. Grandi liest Beleidigungen vor, die er in den letzten Tagen erhalten hat. ‚Verräter. Wer hat dich bestochen?“, wollen empörte Italiener wissen. Großes Kichern. ‚Wer soll das sein? Als ob sich jemand außerhalb Italiens darum kümmern würde.“

Das italienische Verhältnis zur nationalen Küche habe etwas Morbides, sagt Grandi, der sich wegen aller Angriffe auf sein kulinarisches Sakrileg bereits als „Salman Rushdie der italienischen Küche“ bezeichnet. „Denn was ist so provokativ an dem, was ich sage?“ Die Angriffe kamen nicht nur von anonymen Internet-Trollen. Auch große Lebensmittelkonzerne und sogar Lega-Minister Matteo Salvini wandten sich gegen ihn.

Weltkulturerbe

Essen ist in Italien ein ernstes Geschäft, wie sich einmal mehr herausstellt. Grandis Interview in der Finanzzeiten fiel mit der Ankündigung zusammen, dass die Regierung die italienische Küche zum Unesco-Weltkulturerbe ernennt. Auch der Minister für Landwirtschaft und Ernährungssouveränität Francesco Lollobrigida hat am Dienstag einen Gesetzentwurf zum Verbot von Kulturfleisch eingebracht und arbeitet an restriktiven Regeln für insektenhaltige Produkte.

Der sogenannte „Gastronationalismus“ hat zwei Seiten. Nationalstolz ist ein wichtiger Bestandteil, aber es gibt auch große Geschäftsinteressen. Die italienische Lebensmittelproduktion war 2021 gut für 575 Milliarden Euro, 25 Prozent des BIP.

Dieser internationale Erfolg ist zum Teil auf erfolgreiches Marketing zurückzuführen, von dem die Food-Mythen ein wesentlicher Bestandteil sind. Nordeuropäer fallen einfach massenhaft auf romantische Bertolli-Werbespots, italienische Flaggen auf Etiketten und Drei-Buchstaben-Gütezeichen – DOC, DOP, IGP, STG – ein, von denen kaum jemand weiß, was sie bedeuten.

Grandi verdirbt den Spaß mit dem Hinweis auf Erkenntnisse aus der Lebensmittelgeschichtsforschung. Der Schriftsteller stellt die Qualität der italienischen Küche nicht im Geringsten in Frage, betont er zwischen zwei Bissen Spaghetti. „Es ist eine der besten Küchen der Welt.“ Und er versteht, dass Produzenten ein Interesse daran haben, ihrem Produkt eine mythische Vergangenheit zuzuschreiben. „Aber es ist respektlos gegenüber den vielen Italienern, die aus Armut ausgewandert sind“, erklärt Grandi.

Parmesan Käse

Vor allem Süditaliener zogen im 19. und 20. Jahrhundert in großer Zahl nach Nord- und Südamerika. „Und das taten sie wirklich nicht, weil sie in Italien so gutes Essen hatten.“ Ihre Migration habe später die italienische Küche, wie wir sie heute kennen, geprägt, argumentiert Grandi. Das ist zum Beispiel der Grund dafür, dass süditalienische Gerichte im Mittelpunkt der Küche stehen, die heute als typisch italienisch gilt.

Zurückkehrende Migranten brachten stark verbesserte Rezepte aus den Vereinigten Staaten nach Italien zurück, wo mehr Zutaten verfügbar waren. Neben der Migration ist auch die Industrie ein roter Faden in Grandis Geschichte. Denn neben einer fiktiven Geschichte ruht das italienische Food-Marketing oft auf einer weiteren Säule: dem Handwerk. Aber gerade der industrielle Maßstab habe italienische Produkte letztlich großartig gemacht, sagt Grandi. Nehmen Sie zum Beispiel Parmesankäse – eines der heißesten Themen in seiner Argumentation, weil Grandi an der Universität von Parma arbeitet.

‚Die Amerikaner Parmesan ist näher an dem, was unsere Vorfahren aßen als an unserem Parmesan. Mein Großvater würde heute keinen Parmesankäse mehr erkennen. Denn hier wurde das Produkt weiterentwickelt.“ Zufrieden zeigt er eine E-Mail eines Parmesan-Käse-Herstellers, der ihm zustimmt. Ihre Küche sei zwar weniger alt und traditionell, als viele Italiener behaupten, aber das sei kein Grund, sich zu schämen, betont der Historiker. ‚Das alles haben wir in sehr kurzer Zeit erreicht.‘

Carbonara

Grandi tritt auch gegen eine andere italienische heilige Kuh an: die strengen Regeln, die Italiener in Bezug auf das Essen anwenden. Carbonara darf nur mit Backenspeck zubereitet werden und auf keinen Fall mit Schweinebauch, Käse auf Fischpasta oder Cappuccino nach dem Mittagessen sind Ausschlussgründe. Diese Gesetze scheinen in Stein gemeißelt zu sein, während Lebensmittelhistoriker darauf hinweisen, dass der Wandel die einzige Konstante in der Tradition ist. „In den 1970er Jahren stellten italienische Köche Carbonara mit Sahne her. Dafür würden sie dich jetzt hier in Rom umbringen.« Ministerin Lollobrigida schlug kürzlich sogar vor, dass eine „Lebensmittelpolizei“ im Ausland kontrollieren solle, ob italienische Gerichte richtig zubereitet wurden. Grandi lacht herzlich: „Ich stelle mich zur Verfügung, das klingt nach einem tollen Job.“

Es ist Zeit für Tiramisù, ein Dessert, das wie so viele Gerichte aus den 1970er Jahren stammt. Grandi wurde gebeten, diesen Herbst an der Jury der Tiramisù-Weltmeisterschaft teilzunehmen. Jedenfalls ist diese Portion kein Renner, schlussfolgert er nach ein paar Bissen. Ja, das ist eigentlich Grandis einzige Sorge bei seinem Kreuzzug gegen die Essensmythen: ob ihn das den Platz in der Tiramisù-Jury kosten wird. „Aber bis Oktober werden das alle vergessen haben.“



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