Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. So viele Verletzte (56) hat Marcus mit eigenen Augen auf der Straße liegen sehen, Sekunden nachdem am Mittwochmorgen im Herzen Berlins ein Auto in eine Fußgängergruppe gerammt war. Und er sieht sie weiterhin. Immer wieder fährt sein zitternder Zeigefinger in einem Bogen an der Gedächtniskirche entlang, etwa fünfzig Meter von der Terrasse entfernt, auf der Marcus ruht: eins nach acht, tap, tap, tap, das Auto fuhr den Bordstein hoch, tap tap tick, er fuhr los wieder tick tick, und da blieb er im Schaufenster der Douglas-Parfümerie stehen.
Berlin wird am Mittwochmorgen von der gleichen Ja-Nein-Frage erfasst wie eine immer größer werdende Reihe anderer europäischer Städte in den letzten Jahren nach einer plötzlichen Gewalttat mit einem Fahrzeug: Angriff oder nicht? Gegen 10.30 Uhr rammte ein 29-jähriger Mann mit einem Renault Clio an einer Ampel auf dem Kurfürstendamm eine Fußgängergruppe. Ein Opfer starb kurz darauf. Sechs Verletzte kämpfen um ihr Leben. Drei weitere sind schwer verletzt, aber außer Lebensgefahr. Eine unbekannte Anzahl von Personen wurde leicht verletzt.
Angriff oder nicht?
„Überfall“, sagt Marcus, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung haben will. „Das Auto fuhr vierzig, fünfzig Meilen in der Stunde, kam plötzlich auf den Bürgersteig und dann absichtlich wieder zurück. Das scheint nicht das Verhalten eines bewusstlosen Fahrers zu sein.“
„Tätlichkeit“, sagt auch ein anderer Zeuge, der Besitzer eines Restaurants an der Ecke Rankestraße/Ecke Kurfürstendamm, wo der Fahrer von der Straße auf den Bürgersteig fuhr. „Ich habe hinter mir einen wahnsinnigen Knall gehört, habe geschrien, mich umgedreht und konnte gerade noch wegspringen“, sagt Ferri (48), der seinen Nachnamen auch nicht in der Zeitung haben will. „Der Fahrer hat mit Leuten auf der Motorhaube Vollgas gegeben. Dann hat er zwei weitere geschöpft.‘
Die Berliner Polizei konnte dies am Mittwochmorgen nicht bestätigen: „Ob es sich um einen Unfall oder einen Angriff handelt, ist noch unklar“, sagte Polizeisprecher Thilo Cablitz. Nachdem der Fahrer gegen ein Schaufenster gekracht war, hielten ihn Passanten an – es ist nicht ganz klar, ob er versuchte zu entkommen – bis ein herbeieilender Polizist ihm Handschellen anlegen konnte. Der Mann war verletzt, aber überschaubar. Er wurde am Mittwoch befragt. Die Polizei twitterte später, dass es sich um einen „29-jähriger Deutsch-Armenier, lebt in Berlin†
Angriff auf den Weihnachtsmarkt 2016
Gegen halb elf, eine Stunde nach dem Debakel, steht immer noch ein umgeworfenes Fass auf der abgesperrten Straße. Feuerwehrleute beugen sich über eine junge Frau, die in eine silberne Decke gehüllt auf dem Bürgersteig sitzt. Die oberste Etage des Elektronikmarktes Saturn bietet einen Blick auf die Douglas, wo die tödliche Fahrt endete† Auf dem Bürgersteig vor der Tür ist ein Fleck brauner Erde von einem umgestürzten Blumenkasten. Polizisten in weißen Overalls suchen neben einem verlassenen roten Doppeldeckerbus mit der Aufschrift „City Sightseeing Berlin“ nach Spuren.
Diese Ermittlungen könnten einige Zeit in Anspruch nehmen, warnt Polizeisprecher Chablitz. „Wir müssen die genaue Route aufzeichnen, sehen, ob er irgendwo beschleunigt oder gebremst hat, mit Zeugen sprechen, Bilder ansehen.“ Es kann auch schneller gehen, sagt Chablitz, „wenn der Fahrer sagt: ‚Ich habe a, b und c gemacht und das ist der Grund‘. Aber es sieht nicht danach aus.«
Deutsche Medien berichten, der Fahrer habe „ein Geständnis“ im Auto hinterlassen, doch ein Regierungsbeamter widerspricht dem. Allerdings seien im Auto „Flugblätter“ mit Bezug zur Türkei gefunden worden, sagte Iris Spranker, Innenministerin der Berliner Landesregierung.
Dode war Lehrer auf einer Klassenfahrt nach Berlin
Am halben Nachmittag wird ein weißes Forschungszelt an der Stelle aufgebaut, an der laut Restaurantleiter Ferri die letzten beiden Opfer ausgeschaufelt wurden. Bei dem tödlichen Opfer handelt es sich um einen 51-jährigen Realschullehrer in Westhessen, wie die Landesregierung mitteilte. Sie war mit ihren Schülern auf Klassenfahrt in Berlin. Unter den Verletzten waren laut Polizei 14 Schüler der Schule, ein weiterer Lehrer wurde schwer verletzt.
Hinter dem weißen Zelt, auf dem Breitscheidplatz rund um die Gedächtniskirche, erinnern dicke Zäune an das einstige Trauma Berlins: vor mehr als fünf Jahren, an fast exakt derselben Stelle. Im Dezember 2016 fuhr hier der abgelehnte tunesische Asylbewerber Anis Amri mit einem gestohlenen Lastwagen auf einen Weihnachtsmarkt. 12 Menschen starben, 56 weitere wurden verletzt. Amri wurde wenige Tage später auf der Flucht von der Polizei in Mailand erschossen. Seitdem werden rund um den Platz dicke Betonpfähle von einem Meter Höhe platziert, die unter bunten Tüchern verborgen sind. Aber diese Pole können nicht überall sein.
Marcus kann es noch nicht ganz fassen, aber er war damals auch dabei, auf dem Weihnachtsmarkt, als der Truck darüber raste. „Keine fünfzig Meter entfernt“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Als ob an diesem Ort ein Fluch liegt.“ Auf die Frage, wie es ihm damals ergangen sei, als Zeuge des Anschlags auf dem Weihnachtsmarkt, schüttelt er kurz den Kopf. ‚Ich weiß nicht. Gerade jetzt vermischen sich die Toten von damals in meinem Kopf mit den Toten von heute.‘
Die Nachnamen von Marcus und Restaurantleiter Ferri sind der Redaktion bekannt. Sie wollen nicht, dass ihr Nachname in der Zeitung steht.