Kabinett und Bauwirtschaft sehen diesem neuen Urteil mit Angst und Zittern entgegen. Juristen schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass die Regierung diesen Fall verliert, als sehr hoch ein. Der Staatsrat fällt ein Urteil in einer Klage gegen den Wirtschaftsminister, die von der Umweltorganisation Mobilisation for the Environment (MOB) angestrengt wurde.
Im Jahr 2019 war MOB auch Klägerin im Rechtsstreit um den Progammatic Approach Nitrogen (PAS). Das PAS-Urteil war der Auslöser für die nationale Stickstoffkrise, weil es das Kabinett zwingt, die nationalen Stickstoffemissionen drastisch zu reduzieren.
Seit diesem Urteil muss die Regierung bei allen neuen Wirtschaftstätigkeiten prüfen, ob sie Stickstoffniederschläge auf gefährdete Natur verursachen. Können Schäden an der Natur nicht ausgeschlossen werden, muss der zusätzliche Stickstoffeintrag durch Maßnahmen kompensiert werden, die den Stickstoffniederschlag im selben Naturschutzgebiet reduzieren.
Stickstofffreistellung für die Bauphase
Um zu verhindern, dass der Bau aufgrund fehlender Stickstoffflächen weitgehend zum Erliegen kommt, hat das Parlament im Juli 2021 eine Stickstoff-Ausnahmeregelung für die Bauphase in das Gesetz aufgenommen. Diese Bestimmung bedeutet, dass der bei Bauarbeiten freigesetzte Stickstoff keine Schäden an der Natur verursacht und daher nicht kompensiert werden muss. Da Bauarbeiten per Definition vorübergehend sind, können sie laut Regierung keine langfristigen Auswirkungen auf die Qualität der Natur haben.
MOB ist anderer Meinung. Laut der Umweltorganisation sollte die Regierung nicht davon ausgehen, dass es durch Bauarbeiten niemals zu Naturschäden kommen wird. Die temporären Emissionen eines einzelnen Projekts mögen sehr gering sein, die kumulativen Emissionen von Tausenden von Bauprojekten im ganzen Land sind es jedoch nicht. Darüber hinaus erlaubt die europäische Habitat- und Vogelschutzrichtlinie laut MOB keine Ausnahmen für „vorübergehende“ Emissionen. Die meisten Anwälte stimmen in dieser Hinsicht mit MOB überein, was nichts Gutes für das Kabinett verheißt.
Die Baugenehmigung, die MOB in diesem Fall anfechtet, wurde für ein großes Klimaprojekt im Rotterdamer Hafen erteilt. Vier Gas- und Ölproduzenten im Botlek-Gebiet wollen insgesamt 37 Megatonnen ihrer Treibhausgasemissionen auffangen und über eine lange Pipeline zu leeren Gasfeldern unter der Nordsee transportieren. Dieses Porthos-Projekt erfordert unter anderem den Bau einer Kompressorstation auf der Maasvlakte. Die Bauarbeiten führen zu Stickstoffniederschlägen an vier Natura 2000-Gebieten.
Klimaziele in Gefahr
Auch Klimaminister Rob Jetten wartet mit klammen Händen auf das Urteil. Das Projekt Porthos soll einen wichtigen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele für die Industrie leisten. Wenn sich dieses Projekt verzögert, werden diese Ziele gefährdet. Auch der Bau von Wind- und Solarparks verzögert sich. Entscheidet der RvS zugunsten von MOB, muss dennoch für alle diese Projekte eine Stickstoffberechnung durchgeführt werden. Dies gilt auch für Wohnprojekte. Die Baubranche warnt vor erheblichen Verzögerungen bei der Baubeauftragung, falls der Richter die Ausnahmegenehmigung verwirft.
Das Gericht kann auch ein Zwischenurteil erlassen, wobei der RvS das Kabinett um weitere Konkretisierung der Baufreistellung ersucht. Darauf hofft die Baubranche insgeheim, denn der Regierung wird dann ein paar Monate Zeit gegeben, danach muss der Richter noch eine endgültige Entscheidung treffen. Da ist man bald ein Jahr weiter und solange es kein rechtskräftiges Urteil gibt, bleibt die Baufreistellung in Kraft.
Der RvS ist sich der Bedeutung dieses Urteils sehr bewusst, denn der Vorsitzende der Abteilung für Verwaltungsrecht, Bart Jan van Ettekoven, verliest das Urteil direkt morgens um 10 nach 10 Uhr. Das ist ungewöhnlich; Normalerweise stellt der RvS seine Urteile sofort online. Für alle Interessierten, die das juristische Spektakel hinter dem Computer verfolgen wollen, hat das Verwaltungsgericht einen Live-Stream eingerichtet.