Zehntausende von ihnen gingen in Tel Aviv und anderen Städten immer wieder auf die Straße, um gegen die umstrittene Justizreform der Netanyahu-Regierung zu protestieren. Er will unter anderem die Macht des Obersten Gerichtshofs einschränken.
Laut der renommierten Soziologin Eva Illouz (Professorin in Paris und Jerusalem) besteht für Israel nun die Gefahr, ein faschistischer Staat zu werden; Wie dieser Prozess funktioniert, beschreibt sie in ihrem kürzlich erschienenen Buch Das Gefühlsleben des Populismus.
Über den Autor
Peter Wierenga ist Meinungsredakteur von de Volkskrant. In der Rubrik Weiterführende Literatur besprechen die Meinungsredakteure Publikationen, die Denkanstöße für die gesellschaftliche Debatte geben.
Bei einem solch umfassenden Konzept – es gibt auch populistische Tendenzen in unschuldigem Maße – ist es sinnvoll, den Bereich klar abzugrenzen. Illouz schließt sich den Einflussreichen an Definition des deutschen Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller. Im Populismus wird die Mehrheit oder das „echte“ Volk von einer Minderheit mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit oder Religion bedroht: „Ausländer“, „Zigeuner“, „Muslime“ usw. Sie sind unrein, schmutzig, gefährlich.
Und die Elite (Richter, Journalisten, Verwaltungsbeamte) steckt mit dieser Minderheit unter einer Decke. Nur der populistische Führer kann das Volk retten.
Gleiche Mechanismen
Obwohl die Interpretation des Populismus von Land zu Land unterschiedlich ist – hinduistisch-nationalistisch in Indien, konservativ-islamisch in der Türkei, christlich in Ungarn – nutzt sie die gleichen Mechanismen. Letzteres macht das Buch von Illouz auch für den niederländischen Leser sofort wertvoll, der viele Momente des Wiedererkennens erleben wird.
Der Soziologe geht näher auf die Art und Weise ein, wie Populisten in Israel – als dienstältester Ministerpräsident ist Netanjahu einer der ersten Vertreter – starke Emotionen bei den Bürgern hervorrufen, bis zu dem Punkt, dass sie offen für „Lösungen“ sind, die im Widerspruch zu den … stehen Rechtsstaatlichkeit, wie Verwaltungshaft: Inhaftierung von Verdächtigen ohne gerichtliches Eingreifen.
Holocaust
Angesichts der Geschichte des Holocaust hat „Bedrohung“ für Israelis nun eine einzigartige Konnotation. Aber Illouz stellt scharfsinnig fest, dass die Shoah eine gesamteuropäische Operation war, mit der die Araber wenig zu tun hatten. Dennoch sind sie vielen israelischen Bürgern im Gedächtnis geblieben, denn jeder Terrorakt wird von Populisten als Auftakt zur völligen Vernichtung des jüdischen Volkes dargestellt.
Damit ist Angst die wichtigste der von Illouz diskutierten Emotionen: Angst, Ekel, Groll und Patriotismus. Gefühle, die zwar eine Funktion haben, aber in zu großer Dosis und in Kombination zu Hass auf den anderen führen. Die Soziologin nennt viele Beispiele rhetorischer Manipulation, teilweise basierend auf Gesprächen mit ihren Landsleuten. Ein Beispiel: Israelische Soldaten töten untereinander Palästinenser bezeichnen sie konsequent als „Perverse“. Dadurch wird diese Bevölkerungsgruppe entmenschlicht und die Hemmschwelle, Gewalt gegen sie auszuüben, sinkt.
Andere Erfahrung
Illouz verschweigt, wie man als Politiker oder Verwaltungsbeamter verhindern kann, dass solche Emotionen aus dem Ruder laufen, und das ist vielleicht zu viel verlangt. Aber sie hätte noch etwas länger darüber nachdenken können, denn inzwischen ist klar, dass man als Politiker nicht mehr einfach auf Fakten hinweisen kann. Wie kann man die Kluft überbrücken, wenn die Wähler eine völlig andere Wahrnehmung der Realität haben?
Allerdings zeigt sie deutlich, dass Populisten selbst kaum an ihre eigene Rhetorik glauben. Netanjahu strebt beispielsweise eine internationale Annäherung an den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán an, der seine Gegner mit antisemitischen Stereotypen dämonisiert. Da ist Ihre Verbindung zum jüdischen Volk.
Legitimität
Obwohl der Populist der Demokratie für seine Legitimität Bedeutung beimisst, geht es ihm vor allem um Macht. Und sobald das Parlament und die Medien erobert sind, stehen nur noch die Richter im Weg. Sie wahren die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit: Fragen Sie einfach Trump. Daher die Justizreformpläne populistischer Regime, von Polen bis Israel. Wenn sie Erfolg haben, ist der Weg zu einem autoritären (oder, wenn Sie so wollen, faschistischen) Staat offen.
In den Niederlanden ist dies mit Ausnahme einiger weniger Urteile (die „D66-Richter“ von Wilders, die „Tribunale“ des FvD-Abgeordneten Van Houwelingen) noch nicht geschehen. Der Aufstieg der BBB und die Popularität von Omtzigt, der sich für verfassungsmäßige Werte einsetzt, werden den rechtsstaatlichen Parteien vorerst den Wind aus den Segeln nehmen. Doch Illouz‘ Buch zeigt einmal mehr, dass es nicht schadet, die Entwicklungen andernorts genau im Auge zu behalten.
Eva Illouz, Das Gefühlsleben des Populismus2023, Polity Press, 225 Seiten, 17,99 Euro
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