Die Idee, dass Rutte IV vorzeitig fallen könnte, wurde lange Zeit von Mark Rutte, Sigrid Kaag, Wopke Hoekstra und neuerdings von Mirjam Bikker verdrängt. Daran hat schließlich keiner der Parteivorsitzenden von VVD, D66, CDA und ChristenUnie ein Interesse. Es gibt nur ein Jahr im Amt und eine Abstimmung zu diesem Zeitpunkt würde wahrscheinlich allen schaden.
Doch seit dieser Woche spukt das Wort Wahlen in allen Köpfen. Der ungeheuerliche Sieg der BBB hat das Denken aller Beteiligten im Binnenhof beschleunigt. Eine solche Bestrafung aller Koalitionsparteien könne nicht folgenlos bleiben, tönt es durch die Parteikammern, wo manche plötzlich auch laut über die nahe Zukunft des Kabinetts spekulieren. Denn wie fruchtbar ist eine Zusammenarbeit, die für alle Beteiligten so nachteilig ist?
Führungsprobleme
Gleichzeitig zählen die Parteien die Knoten: Auch sie erkennen, dass sie eigentlich noch lange nicht wahlreif sind. Auch in der VVD, sonst ein Leuchtfeuer des inneren Friedens, wächst die Sorge. Auch die Liberalen selbst haben gesehen, dass Rutte keinen starken Wahlkampf führen konnte. Von dem Moment an, als sich der VVD-Chef einmischte, fiel der VVD in den Umfragen. Der Bonus des Premierministers scheint kein Erfolgsgarant mehr zu sein. Auch als mögliche Nachfolgerin hat Edith Schippers nicht das geliefert, was sich ihre Partei erhofft hatte.
Sie würden nach einem möglichen Abgang von Rutte lieber mit einem jungen, frischen Talent beim VVD aufwarten. Schon um den möglichen Kandidaten der grün-roten Partnerschaft von GroenLinks und PvdA, Frans Timmersmans, als alten Mann abtun zu können, der schon vor einem Vierteljahrhundert auf dem Binnenhof herumspazierte. Da wäre ein junges VVD-Mitglied vorzuziehen, aber er müsste jetzt auf die Parteiführung vorbereitet werden. Auf keinem Feld oder auf einer Straße ist eine solche Person zu sehen. Sollte das Kabinett bald stürzen, wird der VVD erneut auf Rutte angewiesen sein.
D66 hat ähnliche Probleme. Selbst in den höchsten Rängen der Demokraten glaubt kaum jemand daran, dass Sigrid Kaag die erste Ministerpräsidentin der Niederlande wird. Die von ihr versprochene neue Führung überzeugte die Wähler nicht: Die Hälfte der Menschen, die 2021 noch D66 wählten, blieben bei den Landtagswahlen zu Hause oder bevorzugten eine linke Partei. Die Gerüchte, Kaag suche einen Job im Ausland, halten sich hartnäckig, allein schon wegen der vielen Drohungen, die sie in den Niederlanden über sich ergehen lassen muss.
Das ist nichts im Vergleich zu den Kopfschmerzen in der CDA. Die Partei hat noch nicht mit einer Analyse begonnen, was im Wahlkampf erneut schief gelaufen ist. Parteichef Hoekstra macht einen erschöpften Eindruck und scheint – den Wahlergebnissen nach zu urteilen – nicht der Mann zu sein, der die Christdemokraten beim nächsten Mal zum Sieg führen wird. Aber auch hier steht kein todsicherer Nachfolger in den Startlöchern. Die ChristenUnie hat als einzige eine neue Parteivorsitzende, aber Mirjam Bikker hat so wenige Flugstunden gemacht, dass niemand in dieser Partei jubeln wird, wenn jetzt Neuwahlen kommen.
Unfallgefahr
Gleichzeitig ist die Begeisterung bei Rutte, Kaag, Hoekstra und Bikker, mit dieser Koalition noch schwierigere Kompromisse einzugehen – und damit das Kabinett über Wasser zu halten – nach der harten Abstrafung nicht gerade gewachsen.
Aber lassen Sie das die Herausforderung sein, die Sie in diesem Frühjahr erwartet. In vielerlei Gestalt. Die Boote mit Zehntausenden Asylsuchenden kehren traditionell nach Südeuropa zurück, sobald das Wetter wärmer wird. In kürzester Zeit klopfen sie an die Tür der niederländischen Asylzentren. Es wird befürchtet, dass sie bald wieder mit zu wenigen Aufnahmeplätzen zu kämpfen haben. Inzwischen sind VVD und CDA überhaupt nicht darauf aus, vor laufenden Kameras noch einmal zu erklären, dass großzügige Unterstützung benötigt wird. Das Verteilungsgesetz, das dafür sorgen soll, dass Kommunen zur Aufnahme von Asylbewerbern gezwungen werden können und das noch vom Abgeordnetenhaus abgesegnet werden muss, ist daher in Gefahr.
Stickstoffpolitik, eine neue Vermögenssteuer, Klimaschutzmaßnahmen: Das sind alles Themen, die noch entschieden werden müssen, die aber tiefe Bruchlinien durch die Koalition ziehen. Jetzt, wo der Groll über die verlorenen Wahlen so groß ist, wächst die Wahrscheinlichkeit von Unfällen. Dieses Bewusstsein scheint nun auch an der Spitze des Kabinetts einzusinken. Am Dienstag treffen sich Rutte und die stellvertretenden Ministerpräsidenten zu Krisenberatungen über das weitere Vorgehen.
Der große Faktor im Hintergrund ist jetzt die BBB: Entpuppt sie sich als seriöse Partei, als Klub, mit dem man Geschäfte machen kann, bieten sich plötzlich attraktive Koalitionsmöglichkeiten am rechten Flügel. Bisher war es für VVD und CDA keine Option, „über die Rechte“ zu herrschen, weil PVV und FvD in ihren Augen zu radikal und instabil waren. Wenn sich die BBB-Mitglieder in den kommenden Monaten nicht gegeneinander wehren und eine versöhnliche Haltung einnehmen, ist erstmals seit 2012 plötzlich ein rechtes Kabinett möglich.
Aber nicht mit Mark Rutte als Premierminister, versicherte Caroline van der Plas kürzlich ihren Wählern. Wer wird das sein? Auch diese Frage steht zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder mit Nachdruck auf dem Tisch.