Amsterdam will Nomaden, Aktivisten und Künstler für die Stadt halten, indem es ihnen Freiraum bietet. Die Frage, die sich sowohl die Kommune als auch die Freibeuter stellen: Gehört man noch zur Gegenkultur, wenn die Regierung einen erleichtert?
Das sind die Orte, an denen man auf dem Weg zum Baumarkt oder zum Fußballplatz unbemerkt vorbeikommt. Ein verfallener Hafenkai mit einigen Schuppen, ein Stoppelfeld mit einem rostigen Zaun drumherum, ein Streifen Niemandsland am Bahnhang. Gut möglich, dass dort urbane Nomaden leben, die zusammen eine Mini-Community bilden.
Do-it-yourself-Künstler, Freibeuter und Ex-Hausbesetzer, die sich am Stadtrand niedergelassen haben. Einst von der Gemeinde gejagt, heute als Trendsetter der Stadt geschätzt. Sie müssen für Aufsehen sorgen und verhindern, dass Amsterdam durch Kommerz und Gentrifizierung seinen eigenwilligen Charakter verliert.
Zur Freude – und auch zum Erstaunen – eines ehemaligen Hausbesetzers wie Bassie Simon, einem 53-jährigen Busfahrer mit Dreadlocks und Bomberjacke. Er zeigt auf das alte Kommando- und Kommunikationsfahrzeug der Feuerwehr, in dem er auf Het Groene Veld lebt, dem ersten echten Free Space in der Hauptstadt. Sein roter Truck steht stolz zwischen anderen Wohnwagen und umgebauten Containern auf einer ehemaligen Wasseraufbereitungsanlage entlang der Ringstraße A10. „Nenn es einfach ein winziges Haus mit minimalem Platzbedarf. Das ist plötzlich total hip, aber so habe ich mein ganzes Leben gelebt.‘
Amsterdam hat kürzlich mit unregulierten Bereichen experimentiert, in denen alternative Gruppen ihr eigenes Ding machen dürfen. Zu minimalen Kosten, vorausgesetzt, sie entwickeln nichtkommerzielle Aktivitäten, die der Nachbarschaft – sogar der ganzen Stadt – zugute kommen. Wenn Sie einen guten Plan haben, können Sie sich bei der Gemeinde für Ihren eigenen Rand melden. Das Wohnen dort ist nur in Ausnahmefällen erlaubt. Die Cultural Defence Line of Amsterdam, ein Zusammenschluss von Dutzenden Brutplätzen und Freiräumen, machte am Samstag mit einer Tour mit Paradewagen durch Amsterdam deutlich, wie viel Freiraum es gibt. Am 7. Mai öffnet Het Groene Veld feierlich das große Tor, das jahrelang für die Öffentlichkeit geschlossen war.
ADM-Gelände
Es ist nicht einfach, Platz für einen alternativen Lebensstil zu finden, warnt Initiator Hay Schoolmeesters von Het Groene Veld. Von seinem Portakabin mit Holzofen aus schickt er langfristige Pläne an die Gemeinde, telefoniert mit Behörden wegen Toleranzkonstruktionen, verhandelt Pachtverträge mit dem städtischen Immobilienamt und mit Banken über langfristige Pachtverträge. Gleichzeitig koordiniert er die Renovierung der Gebäude und des Geländes und trifft sich wöchentlich mit fünfzig Mitbewohnern über jeden Schritt, für den er einen Auftrag braucht.
Der 62-jährige Schoolmeesters, einst u. a. Programmgestalter in der Westergasfabriek, war einer der Hausbesetzer, die 2019 von Vollstreckern gewaltsam vom ADM-Gelände entfernt wurden. „Wir haben dort 21 Jahre gelebt, wir sind erschüttert und psychisch gebrochen hier angekommen.“ Doch jetzt gibt es wieder Hoffnung für die ehemaligen ADM-Leute. „Zuerst durften wir bis 2021 bleiben, und jetzt, da Free Space zur Politik gemacht wurde, können wir bis Ende 2024 bleiben.“
Schoolmeesters hofft auf eine weitere Erweiterung, sobald die Gemeinde erkennt, welche unverzichtbare Rolle der Standort für die Nachbarschaft spielen wird. Er stellt einen Scheck auf und geht hinaus. „Hier entsteht unser soziokulturelles Zentrum“, sagt er und zeigt auf die ehemaligen Büroräume der Wasseraufbereiter. Einwohner Stepan aus Tschechien gibt einem neuen Boden den letzten Schliff, an der Decke funkeln neue LED-Lampen und ein WLAN-Router. Schoolmeesters geht durch eine ehemalige Werkstatt, in der ein Club geplant ist. ‚Hier kommt die Bar, dort die Bühne.‘
Davor befinden sich kreisförmige Becken zwischen Brombeersträuchern, die seiner Meinung nach perfekt für Seerosen und schwimmende Kunst sind. Ein hohes Silo ohne Dach eignet sich perfekt für akrobatische Theateraufführungen und Jugendliche aus der Nachbarschaft chillen in einer hölzernen Strandbar auf Stelzen, unter der gerade ein Wintergarten gebaut wird. Das erste Projekt mit der Nachbarschaft ist fertig: ein gewundener Spazierweg, benannt nach dem 14-jährigen Pepijn, der während Corona in diesen Büschen starb. Wegen einer Kohlenmonoxidvergiftung beim Camping in freier Wildbahn. „Sein Vater ist sehr engagiert.“
Festivalgelände
Die Ex-Hausbesetzer leben auf der Hälfte des sieben Hektar großen Geländes. Julie aus Kolumbien lebt in einer roten Hütte mit Gemüsegarten, Postbote Milan sitzt in einem beigen Wohnwagen und Brey aus Spanien schläft in einem umgebauten Bus. Hier und da gibt es Gemeinschaftsduschen, Verteilerkästen mit Stromkabeln erinnern an ein Festivalgelände und in der Ecke stehen Picknicktische vor einer Gemeinschaftsküche. Alles geduldet, weil das Wohnen hier laut Flächennutzungsplan (Torfwiesenschutzgebiet) nicht erlaubt ist. Miete zum Leben zahlt niemand, aber 75 Euro im Monat für Wasser, Strom und WLAN.
Schulmeister: „Ich sehe dich schon denken. Das wollen alle. Aber es gibt ein Versprechen, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“ Ihm zufolge engagiert sich jeder Einwohner mindestens einen Tag pro Woche für Het Groene Veld. Zum Beispiel durch Gelegenheitsjobs oder die Mithilfe bei der Organisation einer Nachbarschaftsveranstaltung. Laut Schoolmeesters war es ein schwieriger Schritt, einen (günstigen) Mietvertrag für die Gebäude zu unterzeichnen und Geld für die Renovierung zu leihen. „Viele Bewohner hatten das Gefühl, dass sie ihre Hausbesetzer-Vergangenheit verleugneten. Wir haben acht Sitzungen lang darüber gesprochen.‘
Da stellt sich die Frage: Gehört man noch zur Gegenkultur, wenn die dominante Kultur es einem erleichtert? Schulmeister fest: „Sicher! Wir bringen dies in unserer Programmierung zum Ausdruck. Und in den Gruppen, die wir auswählen, um unsere Gebäude zu nutzen.“
Stadträtin Marieke van Doorninck (Raumplanung) spricht lieber über alternative Kultur. „Die Entscheidung als Gemeinde, nach freien Flächen zu suchen, war ziemlich seltsam; ein Widerspruch in sich.‘ Sie zeigt auf eine große Karte von Amsterdam an der Wand ihres Arbeitszimmers. „Die ausgefransten Ränder verschwinden. Alle ungenutzten Flächen werden verfüllt, teilweise um das Grün rund um die Stadt zu schonen. Aber die Folge ist, dass es keinen Platz mehr für alternative Formen des Zusammenlebens geben wird.“ Laut Van Doorninck machen diese Gruppen Amsterdam attraktiv. „Sehen Sie, auf diesem Sportplatz laufen zeitweilig Schweine herum, in diesem Hafen bekommen Anwohner Unterricht im Gemüsegarten, und aus dieser alten Bowlingbahn wird ein selbst betriebenes Gemeindezentrum.“ Der Stadtrat nennt es ironisch, dass die Preise der umliegenden Immobilien nur dank solcher nichtkommerziellen Nachbarschaftsinitiativen steigen.
geharkte Stadt
Laut Sozialgeograph Marco Bontje (Universität Amsterdam) erscheint es sinnvoll, freie, unregulierte Orte zu schaffen. „Wenn Sie es dem Markt überlassen, werden Sie durch Handel und Gentrifizierung am Ende eine eingeschworene Stadt haben, die sich ausschließlich an eine Mittelschicht mit Geld richtet.“ Nicht umsonst, sagt er, ähneln sich Städte in ganz Europa. Dennoch ist es ihm zufolge schwierig zu sagen, was der Nutzen von Freibeutern ist. „Es wurde noch keine Untersuchung durchgeführt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass solche Orte für junge, aufstrebende Künstler wichtig sind. Darüber hinaus steigern Nachbarschaftsprojekte das Wohlbefinden der Bewohner.“
Professor für Urban Issues Stan Majoor (Amsterdam University of Applied Sciences) warnt davor, dass es sich bei den beabsichtigten Free Spaces um temporäre Orte handelt. Er untersuchte im Auftrag von Amsterdam die ausgefransten Kanten. „Setzt sich die derzeitige Entwicklung fort, werden Freibeuter letztlich nur noch in schrumpfenden Regionen wie Nordostfriesland oder Mittellimburg willkommen sein.“ Er plädiert für eine langfristige Lösung innerhalb der Stadt.
Das Rathaus arbeite daran, versichert Verfahrensleiter Joekenel van der Pijl. Als Beispiel nennt sie die Umweltleitvision für Amsterdam 2050. Diese bietet explizit Raum für weniger regulierte Orte, nicht zu verwechseln mit Brutstätten. Inkubatoren sind kollektive Gebäude, in denen ausgewählte Künstler*innen Arbeitsräume zu einem angemessenen Preis mieten. „Free Space geht weiter; das ist halböffentliches Territorium, das eine Gemeinde selbst ausfüllt.‘ Leider, sagt sie, sei jeder Quadratmeter der Stadt in einem Bebauungsplan oder einer politischen Vision enthalten. „Die Grüne Wiese zum Beispiel wird zu einem Sportplatz. Das ist auch wichtig für die Nachbarschaft.“
Laut Van der Pijl war es bisher nicht einfach, Nutzer für ihre Liste mit freien Plätzen zu finden. Gesucht werden unter anderem Nutzer für die Gardens of West, den Six-Haven in North und einen Grünstreifen im Gewerbegebiet Sloterdijk. „Wir erhalten Anrufe, aber oft von Gruppen, die eifrig nach einer Unterkunft suchen. Und das passt nicht in den Bebauungsplan.“ Ihrer Meinung nach ist es eine Ausnahme, dass Wohnwagen auf dem Groene Veld toleriert werden. „Das war eine politische Entscheidung nach der Räumung des ADM-Geländes.“ Auch der temporäre Charakter der Standorte sei eine Entscheidung, sagt sie. ‚Manchmal vorübergehend ist dauerhaft unter dem Druck der Bewohner.‘
Regeln
Neben Wohnen und Provisorium geht es in der Diskussion mit potentiellen Nutzern oft auch um alle Regeln und Vorschriften der Kommune. Gib mir einfach diesen Schlüssel, wir machen den Rest, hört Van der Pijl oft. Aber so geht das nicht, sagt sie. „Es gibt Vorschriften im Bereich Sicherheit, Hygiene und Belästigung, die dem öffentlichen Interesse dienen. Vor allem, wenn Sie öffentliche Veranstaltungen organisieren.“ Freiheit bedeutet eigentlich Individualisierung, sagt sie. „Das ist eine schwierige Aufgabe für eine Kommune. Mein Kollege, der Genehmigungen prüft, kommt auf Nachfragen nicht auf Ausnahmen. Das wäre auch nicht gut.“
Laut Van der Pijl ist das Groene Veld ein Experiment, eine lehrreiche Suche nach Raum innerhalb von Regeln. „Jeder versteht, dass das Backen von Keksen mit Nachbarskindern etwas anderes ist als eine professionelle Tanzparty, aber für beide Veranstaltungen gelten die gleichen Regeln.“ Auch die Diskussion, ob Wohnwagen gleich Haus sei, sei ein wiederkehrendes Thema, sagt sie.
Auf dem Groene Veld stellt sich der Pionier Schoolmeesters alles vor: eine tolle Eröffnungsparty, bei der Kinder aus der Nachbarschaft mit Kunst in Berührung kommen, Teenager gemeinsam über den Pepijnpad spazieren, Väter aus der Nachbarschaft vegetarische Barbecues entdecken und Aktivisten ein geheimes Treffen in einem der Gebäude abhalten. Und dann tanzen alle zusammen. Mit Hilfe eines neuen Online-Tools wird Schoolmeesters versuchen, die sozioökonomischen Auswirkungen des Standorts in den kommenden Jahren zu quantifizieren. „Politiker lieben das einfach.“