Dass sich der CDA in einer tiefen Krise befindet, kann man in den letzten Tagen mitunter buchstäblich ablesen. Parteichef Wopke Hoekstra tritt zunehmend erschöpft und mit zerzausten Kleidern und Haaren vor die Kameras. Parteichef Pieter Heerma sprach diese Woche mehrmals mit Schweiß auf der Stirn vor der Presse.
Das Ganze erweckt den Eindruck, als stünden die Spitzen der Christdemokraten unter großem Druck. Und das ist nicht unberechtigt. Die große Frage, die den Binnenhof so kurz nach dem monströsen Sieg der BBB bei den Landtagswahlen beschäftigt, lautet: Was nun? Um die Antwort auf diese Frage zu formulieren, richten sich die Augen vorerst hauptsächlich auf die CDA, auch weil diese Partei in der Wahlkabine am härtesten bestraft wurde.
Kein Wunder, dass der CDA-Parteichef diese Woche ankündigte, dass nicht alles beim Alten bleiben könne. Der Wahlsieger BBB denkt radikal anders über die Stickstoffmaßnahmen der Regierung („sie sollten fallen gelassen werden“) und die Asylpolitik (die BBB ist gegen das Gesetz, das Kommunen bald zwingen könnte, Asylbewerber aufzunehmen). Das Ergebnis ist, dass CDA-Mitglied Heerma am Dienstag eine „Anpassung“ der Kabinettspolitik forderte. Bemerkenswerterweise hatte er selbst keine Ahnung, was er anders machen sollte, aber er legte den Ball in die Hände des Kabinetts: „Das Kabinett muss sich auf die neue politische Realität beziehen.“
Das Problem ist, dass die Regierung keine Ahnung hat, wie sie vorgehen soll. Minister Wopke Hoekstra wiederholte am Dienstag nach stundenlanger Krisensitzung mit dem CDA, er wolle das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen. Aber wie? „Wir können nicht einfach auf einen A4 setzen, was ab morgen geändert werden muss“, sagte Hoekstra. „Das sollte in den kommenden Monaten Gestalt annehmen.“
Harte Sprache
Hinter den Kulissen ist zu hören, dass die CDA nach außen vor allem harte Worte verwendet, privat aber gar nicht das Aufbrechen von Koalitionsverträgen im Stickstoff- oder Asylbereich fordert. Beim VVD denkt man, dass Hoekstras Äußerungen hauptsächlich für die Bühne bestimmt sind. Auch bei der ChristenUnie versteht man nicht, was die CDA will, aber sie versteht, dass die Christdemokraten suchen.
In der Zwischenzeit, bei D66, graben sie ihre Fersen ein. „Wir halten uns gerne an getroffene Vereinbarungen. Wichtig ist, dass Sie dabei verlässlich sind“, betonte D66-Chefin Sigrid Kaag am Dienstagabend. Seitdem wartet D66 in aller Stille ab, ob der CDA auch formell eine Aufforderung an die Koalitionspartner stellt, von den getroffenen Koalitionsvereinbarungen abzuweichen. Wenn die CDA das wirklich will, dann muss dafür einiges her, wenn die Demokraten überhaupt ernsthaft darüber nachdenken wollen.
Unterdessen rätselt die Fraktion des VVD darüber, was die Liberalen selbst eigentlich zum Stickstoff-Dossier wollen. Seit Beginn dieses neuen Kabinetts konzentriert sich der VVD stark auf die Stickstoffreduzierung – nicht so sehr, um die Natur zu retten, sondern um die Baubranche am Laufen zu halten. Bisher haben die Gerichte Baugenehmigungen immer wieder abgelehnt, weil die Natur dadurch zu sehr geschädigt würde. VVD-Minister Mark Harbers (Infrastruktur) teilte am Freitag zu seinem eigenen Entsetzen mit, dass sein Ministerium den Bau von Brücken und Straßen wegen Stickstoffmangels vorübergehend stoppe.
Stolzer Pfau
Der Vorschlag von Wahlsiegerin Caroline van der Plas (BBB), das Gesetz so zu ändern, dass es ab sofort genügend Stickstoffraum gibt, führt zu Seufzern in den VVD-Gängen. Die Liberalen sagen, sie hätten alle legalen Abkürzungen hundertmal versucht, aber sie seien alle tot gelandet.
Inzwischen lässt sich die BBB-Meisterin nicht entmutigen. Stolz wie ein Pfau schritt der ehemalige Einzylinder am Dienstag durch das Repräsentantenhaus. Strahlend erzählte sie der Presse, wie sie Mark Rutte, seit fast dreizehn Jahren VVD-Ministerpräsident, überredet habe, am Dienstag mit ihr Kaffee zu trinken, um über das Wahlergebnis zu sprechen.
Es zeigt, wie sich die Verhältnisse im Binnenhof verschieben. Bei Rutte musste die BBB-Frau keine Audienz haben, es schien eher umgekehrt. So trafen sie sich beispielsweise nicht in einem von Ruttes liebsten indonesischen Restaurants in Den Haag (Soeboer), sondern in einem Restaurant außerhalb der Hofstad, das passenderweise auch den Namen De Landbouw trug. Der Premierminister, der dafür bekannt ist, seine Rivalen zu Tode zu umarmen, sagte hinterher nur, es sei ein „gutes“ und „nettes“ Gespräch gewesen. Aber laut Van der Plas war sie ziemlich streng gewesen. Sie hatte Rutte gesagt, sie glaube, das Kabinett sei eigentlich vom Wähler abgewählt worden, und wollte von Rutte wissen, wie er die Vertrauenskrise mit dem Land lösen wolle.
Kabinettskrise
Das ist eine gute Frage, auf die Rutte und der Rest des Kabinetts noch keine Antwort haben. In zwei Wochen, am 4. April, ist eine parlamentarische Debatte über das Wahlergebnis angesetzt. Wenn die Koalitionsparteien bis dahin nicht entschieden haben, was sich in der Regierungspolitik ändert, stehen die Chancen gut, dass sie auseinandergespielt werden, findet man bei der ChristenUnie. Davor hat der VVD weniger Angst. Dort sehen sie die Wahlniederlage vor allem als Problem der CDA.
Trotz aller gegenseitigen Spannungen drängt derzeit niemand in der Koalition auf einen Kabinettsbruch. Neuwahlen würden derzeit allen Regierungsparteien schaden. Die Taktik scheint nun aufzugehen. Zeit, nach einer Zauberformel zu suchen, mit der die Koalitionsparteien in zahlreichen Dossiers – von Asyl bis Stickstoff – den Wahlergebnissen gerecht werden und gleichzeitig den Zusammenbruch des Kabinetts verhindern können.
Das mag auf den ersten Blick wie ein unmögliches Unterfangen erscheinen, aber in der Praxis hat es vor allem Premierminister Rutte oft geschafft, sich als eine Art Houdini aus den kompliziertesten Schwitzkästen zu befreien. Diesmal gibt es jedoch keinen offensichtlichen Fluchtweg.
Van der Plas hofft, dass die Rettung aus Brüssel kommt. Sie möchte bald mit EU-Kommissar Frans Timmermans darüber sprechen, wie die Niederlande aus der Stickstoffsperre herauskommen können. Timmermans sagt, dass er dem BBB-Führer „gern“ die europäischen Regeln erklären werde. Er warnt jedoch davor, dass die Niederlande „das Stickstoffproblem nicht aus den Augen verlieren dürfen“.