Drei Jungen im blauen Hemd des ausrichtenden Vereins Leiden Atletiek stehen am Start der 100-Meter-Hürden. Sie sind am Samstag zuvor selbst ein Rennen gelaufen und die Startnummern sind immer noch auf ihrer Uniform angebracht, ihre Namen sind mit Marker darauf geschrieben. „Sie auf Bahn sieben ist Olympiasiegerin“, betont Hugo.
Bewundernd blicken Jens und Thijmen auf die Frau auf Bahn sieben, die mit ihren 1,84 Metern die anderen Teilnehmer überragt. Das ist Nafissatou Thiam. Hugo hat es richtig gemacht. Der 27-jährige Belgier ist zweifacher Olympiasieger. Nicht an den Hürden, sondern am Siebenkampf.
Seit ihrem Titel in Rio de Janeiro ist sie die Benchmark in der Mehrkampfdisziplin und wird am Samstagabend neben den Hürden auch den Weitsprung am Golden Spike bestreiten.
Kurz vor dem Start laufen Hugo, Thijmen und Jens noch ein Stück weiter und um die Ecke. Sie stehen zum Beispiel direkt hinter Thiam und können sehen, wie sie vom Startblock aus über das Meer zu den Zäunen geht. Sie greifen zum Handy, denn einen Olympiasieger sieht man selten aus der Nähe. Das muss protokolliert werden.
Vetter kündigt
Wären sie noch ein paar Spuren nach links, hinter die vierte, gerückt, hätten sie auch die Nummer drei der Spiele genau studieren können: Emma Oosterwegel. Sie kombiniert auch Hürdenlauf mit Weitsprung in Leiden. Das Erste ist ein gutes Aufwärmen für das Zweite.
Beide Allround-Athleten treten gegen die Spezialistin Maayke Tjin A-Lim an, die den Part in 13,14 für sich entschied, vor der Jamaikanerin Melaine Walker (13,59) und Thiam (13,66). Oosterwegel wird Vierter in 13,72.
Eigentlich hätte Anouk Vetter, die in Tokio Mehrkampf-Silber holte, in Leiden über eine der Strecken auf dem roten Tartan rasen sollen. Sie sagte am Tag vor dem Spiel ab.
Vetter gewann vor zwei Wochen den vielbeachteten Siebenkampf im österreichischen Götzis. Sie brach ihren eigenen niederländischen Rekord mit 6.693 Punkten in der Disziplin, die 100 Meter Hürden, Hochsprung, Kugelstoßen, 200 Meter, Weitsprung, Speer und 800 Meter vereint.
Sie habe sich beim Hochsprung eine leichte Knieverletzung zugezogen, sagt Vater und Allround-Nationaltrainer Ronald Vetter, der die Wettkämpfe in Leiden in der Sonne verfolgt. Seine Tochter scheint sich gut zu erholen, aber ein Scan am Montag sollte ein endgültiges Urteil über die Verletzung liefern. Es machte wenig Sinn, noch einmal dagegen vorzugehen.
Schmerzen im Knöchel
Allrounder sind anfällig für Verletzungen, aber das liegt nicht daran, dass sie nicht viel aushalten können. Andererseits. Jede sportliche Veranstaltung verlangt dem Körper des Sportlers auf seine ganz eigene Weise viel ab, erklärt Vetter. „Und dann werden die Allrounder auch noch sieben Events machen. Das hat enorme Auswirkungen.“ Dank eines starken, vielseitigen und belastbaren Körpers können sie damit umgehen.
Aber es gibt auch eine andere Seite. Weil Allrounder ihre Aufmerksamkeit aufteilen müssen, sind sie für die spezifische Wirkung der einzelnen Komponenten etwas weniger gerüstet als Spezialisten. Das macht sie verwundbar. Deshalb gibt Oosterwegel den Weitsprung nach einem ungültigen Versuch auf.
Sie geht zu Vetter hinüber und erklärt, dass sie Schmerzen im Knöchel verspürt. „Nichts Ernstes“, sagt sie einen Moment später. Trotzdem lautet die Devise: Aufhören. Es macht keinen Sinn, im Vorfeld der Weltmeisterschaft in Eugene in mehr als einem Monat Risiken einzugehen. Dafür ist der Golden Spike, ein bescheidener Wettbewerb im internationalen Kontext, von zu geringer Bedeutung. „In einem Mehrkampf wäre ich weiter gegangen.“
Wäre sie Weitsprungspezialistin gewesen, hätte Oosterwegel weitergemacht oder sind Allrounder vorsichtiger? Vetter: „Dann hätte sie keine Probleme gehabt, denn dann wäre ihr Körper besser an diese Belastung angepasst gewesen.“
Ein Multicamp mischt sich ein. Laut Oosterwegel und Trainer Vetter kann ein topfitter Athlet pro Jahr maximal drei Mehrkampf-Events absolvieren. Der Siebenkampf in Götzis hinterließ Spuren bei Oosterwegel, der Fünfter wurde. „Ich habe eine Woche gebraucht, um mich zu erholen“, sagt sie. „Machen Sie das zwei Wochen“, fügt Vetter später hinzu. Deshalb beschränken sich seine Schüler zwischen den großen Turnieren im Wettkampf auf einzelne Partien.
Puzzle ist Teil der Disziplin
Während Oosterwegel ihre Tasche schnappt und entlang der Strecke über den Zaun klettert, springt Thiam auf 6,54 Meter. Es ist gut für den zweiten Platz, nur zwei Zentimeter hinter der Litauerin Jogaile Petrokaite.
Anders als der Niederländer ließ Thiam den Mehrkampf in Götzis an sich vorbeiziehen. Sie hatte in den letzten Monaten mit einer Rückenverletzung zu kämpfen und kann eine solche zweitägige Anstrengung noch nicht bewältigen. In den Wochen vor der WM shoppt sie die komplette Zutatenliste des Siebenkampfs mit Einzelkämpfen zusammen. Mit den Hürden in Leiden war sie nicht sehr zufrieden, aber mit dem Weitsprung war sie sehr zufrieden. „Das gibt dir Selbstvertrauen.“
Dass sie in der WM-Vorbereitung keinen kompletten Siebenkampf absolvieren kann, sieht Thiam nicht als großes Hindernis. „Ich habe es letztes Jahr auch nicht für meinen Olympia-Titel getan.“
Sie weiß besser als jeder andere, dass das Puzzlen einfach Teil ihrer Disziplin ist. Es gehe im Wesentlichen ums „Managen“, sagt sie. Ob es um die Verwaltung ihres Körpers oder ihres Wettkampfprogramms geht. „Es ist nicht einfach.“
Darin liegt auch der Reiz der Allround-Disziplin, findet Vetter. „Es fordert seinen Tribut, aber was könnte besser sein als der Allrounder? Es ist die ultimative Vielseitigkeit.“