Akribisch hat die Künstlerin Eva Spierenburg den Schmerz in ihrem Körper zeichnerisch festgehalten

Akribisch hat die Kuenstlerin Eva Spierenburg den Schmerz in ihrem


Eva SpierenburgStatue Fabian Landewee

‚Ruhig sitzen. Augen geschlossen. Tief durchatmen. Atmen Sie ruhig aus. Gehen Sie dann jeden Körperteil in Gedanken durch.‘ Kommt Ihnen das bekannt vor? So beginnen die meisten Meditations- oder Achtsamkeitsübungen mit einem sogenannten „Body Scan“. Daran wagte sich auch die Künstlerin Eva Spierenburg (35). Im Herbst 2020 steckte sie fest, war überreizt. Sie ging nur in ihr Atelier. „Um den Tag zu überstehen, es zu versuchen.“ Aber es kam nichts.

Das war ihr neu. Spierenburg zeichnet sich seit Jahren durch ihre wunderschönen persönlichen Installationen, Skulpturen und Gemälde aus. Nach ihrem Abschluss an der Utrecht School of the Arts blieb sie an der Rijksakademie in Amsterdam. Dort strich sie die Wände ihres Ateliers rosa und schuf abstrakte Skulpturen, die an Körperformen erinnern. Ihr fleischliches Studio schien gleichzeitig eine Höhle und ein Mutterleib zu sein.

Auch nach der Rijksakademie blieb sie nicht stehen: 2019 hatte sie eine Einzelausstellung im Centraal Museum Utrecht, ein Jahr später im Kunstraum Cinnnamon in Rotterdam. Sie war bereits viermal für den Royal Prize for Free Painting nominiert worden: 2012, 2013, 2014 und 2015. Außerdem gewann sie Preise, wie 2018 ein KF-Hein-Stipendium. Mit dem Geld unternahm sie eine Recherchereise nach China.

null Bild Fabian Landewee

Statue Fabian Landewee

Doch 2020 steckte sie fest. Ihr ganzer Körper schmerzte. Sie wusste warum. Der Tod ihres Vaters hatte sie tief berührt und auch verwirrt, sie hatte kein gutes Verhältnis zu ihm. Sie wurde vom Stress und Schmerz einer unsicheren Kindheit überwältigt. „Ich war ständig in einer Art Erstarrung, einem Überlebensmodus, der nur sehr schwer weggeht.“ Sie hatte jeden Tag Kopfschmerzen, aber auch Schmerzen im Nacken, in den Schultern und im Bauch.

Sie wusste also, wie es passiert war, aber sie wusste nicht, wie sie weiter vorgehen sollte. Deshalb wollte sie Achtsamkeitsübungen machen. Aber selbst eine 3-minütige geführte Meditation scheiterte: „Alles, was ich fühlte, war Schmerz und Aufregung.“ Nach einigen vergeblichen Versuchen griff sie zu Stift und Papier. Vielleicht könnte sie sich auf die Meditation konzentrieren, wenn sie sich anmeldete?

Links schrieb sie das Datum, daneben kleine Schemazeichnungen, darunter der Text: „Kiefer, Gesicht, ganz, Brust, Brust + Rücken“. Ohne diese Worte wäre es schwer zu erraten, was diese Stiftzitter bedeuten. Über dem Wort „Gesicht“ ist etwas, das ein wackeliges großes i oder eine sehr schmale Sanduhr sein könnte. Über ‚Brust+Rücken‘ windet sich ein Streifen mit einer kurzen stumpfen Form daneben.

Eva Spierenburg, Den Körper dokumentieren.  Bild

Eva Spierenburg, Den Körper dokumentieren.

Durch das Zeichnen zwang sich Spierenburg zur Aufmerksamkeit, so schwer es ihr auch fiel: „Ich wollte nur, dass es weg ist.“ Sie tat es ein paar Tage später noch einmal und dann noch einmal. Sie war überrascht von dem, was sie zeichnete. „Der Schmerz wurde zu einer Sache außerhalb meines Körpers, mit einer Form, die interessant sein kann.“ Die Zeichnungen wurden bald aufwendiger. Es wurde auch mehr Text hinzugefügt: „Schweres Gesicht“, schrieb sie, oder „prickelnde Füße“. Aber auch mit einer an Halswirbel erinnernden Zeichnung: „Meine Sterblichkeit kann Musik machen, wenn mein Finger sie streichelt.“

Es ist nicht Spierenburgs Gewohnheit zu skizzieren. Sie hat nicht einmal ein Skizzenbuch. Ihre Skulpturen aus Polystyrolschaum, die mit bemaltem Seihtuch bedeckt sind, entstehen durch Tun. Vielleicht sehen sie deshalb so organisch aus. Eher gefunden als gemacht. Sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass dieses Zeichentagebuch sie zu neuen Kunstwerken führen würde. Sie war froh, dass etwas aus ihren Händen kam, auch wenn es in Tagebuchform war. „Während der Dreharbeiten habe ich nie gedacht: Das zeige ich. Genau deshalb habe ich auf Selbstzensur verzichtet.“

Selbstzensur? Dieses Wort habe ich von Spierenburg nicht erwartet. In der Vergangenheit vielleicht. In den ersten Jahren nach dem Studium malte sie Bilder, in denen sie ihre Träume und Erlebnisse in mythologische Geschichten hüllte. Als sie sich für die renommierte Rijksakademie bewarb, teilte sie dem Auswahlausschuss mit, dass sie sich nicht länger hinter großen Geschichten verstecken und verletzlicher sein wolle. Im ersten Monat, in dem sie an der Rijksakademie arbeitete, starb ihre Mutter. Ihre Kunst konzentrierte sich dann natürlich darauf: „Diese Verwundbarkeit kam sehr schnell.“

„Ich dachte, der Sterbeprozess sei eine grundlegende Erfahrung. Dass das Leben untergeht und der Körper nur noch eine kalte Hülle wird.‘ Sie hat damals zum Beispiel etwas aus Epoxidharz gemacht, das an geronnenes Blut erinnert. Jetzt sagt sie: „Es ist wirklich nicht so, dass ich Kunst gemacht und dann geweint habe. Während der Arbeit kann ich mich vom Thema lösen, spielerisch damit umgehen.“

Seahenge
Eva Spierenburg für ihre neue Installation Dem Körper auf der Spur inspiriert von Seahenge, einem prähistorischen Monument aus Eichenholz, das an der Ostküste Englands gefunden wurde und etwa 4.000 Jahre alt ist. Der Besucher kann die Skulpturen berühren, sich darauf legen und anschließend über Kopfhörer einem Text Spierenburgs lauschen. „Mein Brustbein erinnert sich an alte Dinge. Und rührt ständig im Sediment. Sticht in weiche Teile, baut einen Käfig, um zu überleben.“

Nach dem Tod ihres Vaters gab es diese Distanz offenbar nicht mehr. Sie kann in ihrem Tagebuch darauf hinweisen, wann die Zeichnungen heller wurden, der Schmerz weniger intensiv. „Mir ist zum Beispiel meine Zunge bewusst geworden, ich habe gespürt, dass sie jeden Tag anders ist. Ich begann, mir diese Zunge als ein Wesen mit einem eigenen Leben vorzustellen, das in einer Höhle lebt.‘ Und nach und nach begann sie aus ihrem Zeichentagebuch Skulpturen und Gemälde zu schaffen. Sie zeichnete weiter, sie muss sich diese Meditation nicht mehr anhören.

Es bleibt kompliziert, findet sie, Kunst zu machen, die so persönlich ist. Sie fragt sich immer: Wann wird das für jemand anderen relevant? Trotzdem entschied sie sich, ihr persönliches Zeichentagebuch zu zeigen. Zuerst eins zu eins, in ihrem Studio. Und schließlich letztes Jahr im Ausstellungsraum Kunstenlab in Deventer auf einem 14 Meter langen Stück Stoff. Diese vergrößerten Zeichnungen sehen zusammen spektakulär aus. Es ist, als hätte Spierenburg ein ganz neues Alphabet geschrieben.

null Bild Fabian Landewee

Statue Fabian Landewee

Offenbar wirkt sich diese neue Sprache auch auf andere aus. Letzte Woche wurde bekannt, dass Spierenburg auch in diesem Jahr wieder (also zum fünften Mal) für den Königlichen Preis für freie Malerei nominiert ist, der am 21. September verliehen wird. Ein dreidimensionales Gemälde Spierenburgs, das sie nach einer Tagebuchzeichnung ihres „Schenkelkrampfs“ erstellt hat, wird im Königspalast am Dam-Platz zu sehen sein. „Unterschenkel fließend, Oberschenkel eingefroren – kein Zusammenhang“, schrieb sie in ihr Zeichentagebuch.

An diesem Wochenende zeigt Spierenburg im Rahmen der CareFull-Kunstmanifestation eine neue Installation in Utrecht. Im Dem Körper auf der Spur seine Formen aus ihren Zeichnungen wiederzuerkennen. Sie möchte die Besucher auffordern, selbst zu zeichnen, wie sie ihren Körper erleben. Zusammen mit drei weiteren Künstlern wird sie auf der Grundlage dieser Zeichnungen neue Kunstwerke schaffen, die im Oktober ausgestellt werden. Das ist ein neues Experiment, auf das sie sich freut: „Ich wende mich an andere: Schau, so funktioniert es bei mir, vielleicht funktioniert es bei dir auch?“

DREI MAL EVA SPIERENBURG

Tracing the Body, Kapitel 1, ProjectSpace Local, Utrecht, 10. und 11. September

Tracing the Body, Kapitel 2, mit Emmie Liebregts, Natalia Ossef und Jeltje Schuurmans, AG, Raum für neue Kunst und Medien, Utrecht, 14.10. bis 5.11

Königlicher Preis für freie Malerei, Königlicher Palast am Dam-Platz, Amsterdam 23.09. bis 23.10., Preisverleihung 21. September.



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