Die Niederlande scheinen die am Dienstag getroffene europäische Vereinbarung zu erfüllen, mindestens 15 Prozent weniger Gas zu verbrauchen. In den vergangenen Monaten ist der Appetit auf Erdgas bereits um mehr als 30 Prozent zurückgegangen. Damit scheinen die Niederlande ein leuchtendes Beispiel für Deutschland zu sein. Das ist viel stärker auf russisches Gas angewiesen, konnte bisher aber nur wenige Prozentpunkte einsparen.
Das Ministerium für Wirtschaft und Klima hat sich in den vergangenen Monaten für Gaseinsparungen stark gemacht. Aber bemerkenswerterweise weiß es nicht, welche Sektoren in letzter Zeit am meisten Benzin gespart haben. Gasunie sagt auch, dass es im Dunkeln tappt. „Das ist nicht auf uns rückführbar“, sagte ein Sprecher.
Das Zentralamt für Statistik weiß mehr: Die Einsparungen kommen einem großen Teil der Industrie zugute, die zuletzt durchschnittlich 40 Prozent weniger Erdgas verbrauchte. Besonders die sehr energieintensiven Chemie- und Mineralölbranchen punkten; letztere verbrauchten im Juli zwei Drittel weniger Benzin. Raffinerien verbrauchen knapp 4 Prozent des gesamten Gases und reduzieren es um zwei Drittel.
Verzerrtes Bild
Aber die Zahlen sind verzerrt. Ein großer Teil des geringeren Gasverbrauchs sei darauf zurückzuführen, dass zwei der größten europäischen Raffinerien – darunter eine von Shell – in den vergangenen Monaten wegen Wartungsarbeiten stillgelegt worden seien, sagt Erik Klooster, Geschäftsführer des Handelsverbands VNPI. Infolgedessen war der Verbrauch ein Bruchteil des Normalwerts. Doch jetzt, da die Shell-Raffinerie wieder hochfährt, wird auch der Gasverbrauch wieder steigen.
Auch wenn mehr passiert: In Pernis werden inzwischen größere Mengen an Restgasen eingesetzt, um den Crackprozess am Laufen zu halten. Diese Gase werden üblicherweise unter anderem zur Herstellung von LPG verwendet. Shell sagt auch, dass mehr Wasserstoff (notwendig unter anderem zur Entschwefelung von Diesel und Benzin) aus Schweröl und Asphalt. Das spart Erdgas. Wenn Pernis bald wieder voll durchstartet, ist die Spargrenze von 15 Prozent nicht gefährdet. Die Niederlande werden nicht unter 20 Prozent fallen, glaubt Gasunie, vorausgesetzt, der Winter wird nicht zu streng und es kommt nicht zu neuen Rückschlägen. Gasengpässe treten dann nicht auf.
Dennoch ist die Branche besorgt. „Ich glaube nicht, dass wir friedlich einschlafen können, wie Den Haag sagt“, sagt Hans Grünfeld, Geschäftsführer des VEMW, des Verbandes der großen Energieverbraucher. Denn der Verbrauchsrückgang sei sicherlich nicht nur auf Effizienzsteigerungen zurückzuführen, sagt Grünfeld. Diese machen jährlich 1 bis 3 Prozent aus. Hohe Preise sind eine Hauptursache. „Es ist daher unvermeidlich, dass Sektoren die Produktion herunterfahren.“
Glas, Pappe und Papier
Die energieintensive Verpackungsindustrie, die unter anderem Glas, Pappe und Papier herstellt, laufe bereits langsamer, ebenso einige Chemie- und Düngemittelfabriken, sagt Grünfeld, will aber keine Namen nennen. Da diese Art von Unternehmen oft global tätig ist, kann ein Teil der niederländischen Produktion von Fabriken an anderen Orten übernommen werden.
Die Aussichten sind düster. Als Gazprom diese Woche die Versorgung über die wichtige Verbindung Nord Stream 1 auf 20 Prozent drosselte, stiegen die Gaspreise weiter. Am Mittwoch wurde kurzzeitig ein Niveau von 227 Euro pro Megawattstunde erreicht. Anfang Juni schwankte der Preis um die 80 Euro. Grünfeld: ‚Preislich hatten wir leider noch nicht das Schlimmste.‘
Energieminister Rob Jetten berät sich derzeit mit 251 Großverbrauchern über einen Abschaltplan, falls es zu physischen Engpässen kommt und Unternehmen gezwungen sind, die Produktion einzustellen. Der Plan berücksichtigt „Ketteneffekte“, Unternehmen weiter unten in der Produktionslinie, die wichtige Produkte liefern können und nicht zum Stillstand kommen dürfen. Der Plan wird nach dem Sommer fertig sein, aber Gasunie erwartet nicht, dass er im nächsten Winter verwendet werden muss.
Hauptsächlich betroffene Haushalte
Auch viele Verbraucher sehen dem Winter mit Angst und Zittern entgegen. Der bisherige Höchststand von 200 Euro kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine hielt kurz an, danach fielen die Kurse wieder. Nichts ist sicher, sagen Analysten. Wenn die Lieferungen aus Russland jedoch so niedrig bleiben wie jetzt oder sogar zum Erliegen kommen, stehen die Chancen gut, dass die Handelspreise noch lange auf ihrem derzeit extrem hohen Niveau bleiben werden.
Laut Zentralem Planungsamt sind die Lasten ungleich verteilt und die hohe Energierechnung landet nun hauptsächlich bei den Haushalten, deren Kaufkraft stark zurückgegangen ist. Ihre Energierechnungen dürften in naher Zukunft wieder stark steigen. Dadurch wird die Nachfrage nach Erdgas weiter sinken. Die Niederlande werden also die europäischen Sparvorschriften einhalten, aber zu einem hohen Preis. „Die Versorgungssicherheit ist nicht länger das wesentliche Problem für Nordwesteuropa“, stellt die Analystin Jilles van den Beukel vom Zentrum für strategische Studien in Den Haag fest. „Erschwinglichkeit ist.“
Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, dass auch eine BP-Raffinerie stillgelegt wurde. Das ist nicht wahr.
Gasknappheit in Deutschland „noch abzuwenden“
Eine Gasknappheit in Deutschland lässt sich noch verhindern, wenn es Industrie und Verbrauchern gelingt, mehr Gas einzusparen. Das sagt Klaus Müller, der Chef der Bundesnetzagentur, dem deutschen Gasverteiler. Deutschland befindet sich seit einem Monat in Alarmphase 2 seines Gasnotfallplans. Dadurch dürfen Gasversorger die gestiegenen Gaspreise an die Verbraucher weitergeben. Dies soll zu einem geringeren Gasverbrauch führen. Wenn das nicht genug getan wird oder Russland den Gashahn weiter zudreht als erhofft, kann die Bundesregierung in Alarmphase 3 übergehen und das Gas rationieren. Müller hofft auf weniger Verbrauch, damit die Reserven rechtzeitig wieder aufgefüllt werden können.