48 Sekunden. Wer genau hinhörte, konnte höhnisches Kichern aus Deutschland hören. Das war Merkel. Auf der Liste der Personen, die mit dem absurden Stück vertraut sind Warten auf Putin sie liegt mit vier Stunden und fünfzehn Minuten immer noch an der Spitze, dicht gefolgt vom ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch (vier Stunden). 2004 ließ Wladimir Putin die russischen Eltern von Kindern, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, zwei Stunden lang auf eine Gedenkfeier warten. 2015 wartete Papst Franziskus eine Stunde, 2018 kam der russische Präsident 45 Minuten zu spät zu seinem Treffen mit Donald Trump.
Also ja: Die kleine Minute, die Putin am vergangenen Dienstag in Teheran auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan warten musste, wird vom eigenen Ruf des Mannes in den Schatten gestellt. Und doch waren es 48 sehr langsame, anhaltende, sirup sickernde, endlose, träge Sekunden, in denen Vladimir wie ein Schuljunge vor der internationalen Presse stand, neben seinem Stuhl wackelte und auf einen Fototermin mit Erdogan wartete.
In einem Video, das auf unzähligen Nachrichtenseiten sofort von allen Seiten analysiert wurde, zoomt der Kameramann auf sein blasses Gesicht. Putin tut eindeutig sein Bestes, nicht in die unaufhörlich klickenden Kameras zu schauen. Manchmal verzieht er den Mund zu einer Art Grimasse, fährt mit der Zunge über die Zähne, starrt auf seine Füße, schluckt etwas. Als Erdogan schließlich mit einem lässigen Lächeln auf der Bildfläche erscheint, breitet der russische Präsident die Arme aus, eine Geste, die gleichzeitig als erleichtertes „Ha, da bist du“ und leicht irritiert interpretiert werden könnte: „Was machst du mit mir, Recep? ‚ Sie schütteln sich die Hände.
Blitz, Klick, Schnurrbart machten die Kameras – aber der eigentliche Medienmoment war da natürlich schon passiert. Putin wusste es, Erdogan wusste es auch. Einige politische Kommentatoren sahen die 48 Sekunden als süße Rache dafür, dass Putin Erdogan vor zwei Jahren in Moskau zwei Minuten warten ließ, so lange, dass der türkische Präsident sich auf einen Stuhl setzen musste. Das alles wurde von der russischen Presse gnadenlos behandelt.
![Der türkische Präsident Erdogan gibt Putin einen Vorgeschmack auf seine eigene Medizin und kommt zu spät zu ihrem Termin 2 Ha, da sind Sie endlich, Putin scheint zu strahlen, sobald Erdogan auf ihn zukommt. Statue Mustafa Kamaci / AFP](https://taketonewscdn.cloudspecter.com/de/wp-content/uploads/2022/07/1658495164_262_Der-tuerkische-Praesident-Erdogan-gibt-Putin-einen-Vorgeschmack-auf-seine.8.jpeg)
48 Sekunden. Man könnte sagen: Worum geht es? Erdogan musste aufs Klo, der Zahnarzt rief nach einem neuen Termin. Müssen wir wirklich so viel Sinn hinter dieser kurzen Wartezeit suchen?
Das muss sein. Sich baumeln lassen, eine Hand verweigern, den Partner küssen, einen Stuhl hinstellen – alles kindische, aber ikonische Tricks, die Politiker und Diplomaten miteinander spielen. Zur Erinnerung: Vor einem Jahr musste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem Treffen mit Erdogan etwas weiter entfernt auf der Couch sitzen, während Europapräsident Charles Michel auf einem Stuhl neben dem türkischen Präsidenten Platz nehmen durfte. Und wenn mal versehentlich etwas mit dem Protokoll schief gelaufen ist, geht es trotzdem prima, denn: Kameras! Das Bild spricht immer Bände.
Wunschdenken
Die Nahost-Korrespondentin Joyce Karam schrieb auf Twitter: „Die fünfzig Sekunden, die Erdogan Putin warten ließ, erschöpft in die Kameras schauend, sagt genug darüber aus, wie viel sich nach der Ukraine verändert hat.“ Erschöpft: ‚zerzaust‚. Es war tödlich – zumindest solange die Aufregung anhielt. Denn auch das stimmt: Bilder sprechen Bände, aber nicht immer die Wahrheit. Putin mag so erschöpft aussehen, dass es Wunschdenken ist, seinen Tod in diesen 48 Sekunden zu sehen.
Was ich mir als Medienkonsument noch gewünscht habe: Bilder von Erdogan hinter der Tür und sich in die Faust beißend bis 48 zählend, gerade genug, um sein persönliches Gramm zu bekommen, eben nicht genug, um den Mann, der mit Atomwaffen droht, wütend zu machen. Aber ich kann wahrscheinlich warten, bis ich eine Unze wiege.