Manche unbekannte Geschichte ist so schön, dass man sie am liebsten mit niemandem teilen möchte, weil man das erworbene Wissen aus hundertprozentig egoistischen Gründen gerne für sich behält. Schließlich schwillt die Brust vor Überlegenheit an, wenn man weiß, dass man eine spannende Geschichte kennt, von der alle anderen nichts wissen. Nein, das ist kein schöner Gedanke, aber beim Lesen Der schnelle Fotograf – Eine Geschichte des modernen Porträts es war nicht leicht, dem Drang, sich zu verstecken, zu widerstehen. So erstaunlich, wie das Wissen um eine wichtige, bisher nicht aufgezeichnete Episode aus den Anfängen der populären Fotografie aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwunden ist.
Der schnelle Fotograf, des am Rijksmuseum tätigen Fotohistorikers Róman Kienjet, beschreibt die Entstehung der frühen (kommerziellen) Porträtfotografie für die breite Öffentlichkeit, ein Phänomen, das sich Ende des 19. Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten ausbreitete und auch Europa in seinen Bann zog: Zwischen 1912 und 1920 gab es allein in den Niederlanden mehr als 150 Studios, in denen die sogenannte Schnellfotografie praktiziert wurde. Der Begriff bezieht sich auf die beispiellos kurze Zeit zwischen Aufzeichnung und Druck. Die schnellen Techniken in der Dunkelkammer ermöglichten Produktion und niedrige Preise.
Wir wissen, dass die Fotografie 1839 mehr oder weniger gleichzeitig in London und Paris erfunden wurde. Dass die Erstellung eines Fotos – Maximalauflage 1 Stück – zunächst eine quälend langsame und mühselige Angelegenheit war, mit extrem langen (stundenlangen) Aufnahmezeiten und viel Fummelei bei der Präparation von lichtempfindlichem Material, und das Konservieren Das Bild, die Befestigung war eine ziemliche Herausforderung.
Wir müssen immer noch den Pionieren wie dem Franzosen Nadar dankbar sein, der es wagte, mit Kamera und Taschenlampe in die dunklen Pariser Katakomben hinabzusteigen, um die breite Öffentlichkeit beim Anblick der dort aufgehäuften Hunderttausende von Saiblingen erschaudern zu lassen. Nadar, der von einem Heißluftballon aus die Vogelperspektive aufnahm. Und seine Grenzgänger, die mit von Pferden gezogenen Labors auf Rädern in die hohen Berge fuhren, um Fotos von Gletschern zu machen, die die breite Öffentlichkeit noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Sie loteten die ungeahnten Möglichkeiten der Fotografie aus und entfalteten wie ein Fächer das Potenzial des neuen Mediums.
Sie ebneten den Weg für eine Fotografie, die unseren Blick auf die Welt, die Nachrichten und andere Kulturen nachhaltig erweitert und verändert hat. Ihre Namen – Nadar, Fox Talbot, Daguerre – sind in unsere Erinnerungen und Denkmäler eingraviert. Aber was ist mit den Fotografen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Massen mit ihren eigenen Bildern für einen Cent versorgten? Damit jeder ein Porträt von sich bekommen konnte, einst ein Privileg der Elite, und sein Thron seinen Kindern und Kindeskindern erhalten blieb? Die Namen der unterstützenden Fotografen sind in Vergessenheit geraten, ebenso wie ihre bahnbrechende Arbeit uns allen entgangen ist. Glücklicherweise ist Kienjet da, um das zu korrigieren.
Kienjet beschreibt in seinem Buch, wie die Porträtfotografie im Zeitalter großer technischer Fortschritte wie der Elektrifizierung, des Aufkommens von Autos und Flugzeugen, der Massenproduktion am Fließband und des Wirtschaftswachstums den schicken Fotostudios weitgehend entkommen ist. Wie Innovationen dazu führten, dass etablierte, unprätentiöse Porträtfotografen schockiert und angewidert waren von der Konkurrenz durch Kollegen, die der schnellen Lieferung ihrer Bilder und der Erschwinglichkeit für die breite Öffentlichkeit Vorrang vor künstlerischen Ambitionen einräumten. Teure Kunstfertigkeit wich einer billigen Massenproduktion, wodurch die Schwelle des Studios für die Darstellung durch die breite Öffentlichkeit erheblich gesenkt wurde.
„Drücken Sie einfach den Knopf und Sie sind dran. London New York, Köln und Paris. Kommt gerne mit dem Fahrrad“, war der Slogan, mit dem sogenannte Tip-Top-Studios Werbung für sich machten. Dazu gehörten angesagte Namen und prahlerischer internationaler Charme. Kein Dicker hinter der Kamera, sondern der Kunde drückte selbst auf die Aufnahmetaste: die ultimative Demokratisierung des Mediums, die einem das Gefühl gab, Herr des eigenen fotografischen Universums zu sein. Die manuelle Entwicklung und der Druck hinter den Kulissen taten der Aufregung keinen Abbruch.
Die technologischen Sprünge nach vorne (einfache Entwicklungsprozesse, die Einführung billiger Rollfilmnegative, Kameras und Plattennegative, die mehrere Porträtaufnahmen ermöglichten) müssen die breite Öffentlichkeit des frühen 20 Versenden von Fotos und Videos per E-Mail), Handy) hat dies im 21. Jahrhundert getan. Es führt vielleicht nicht sofort zu besseren Kompositionen, aber es führte zu viel billigeren Drucken. Beispielsweise bot die Automatic Photo Company 12 Fotos für 50 Cent an.
Schnelle Fotografen ließen sich in den Zentren von Amsterdam, Rotterdam, Den Haag, Utrecht, aber auch in zahlreichen Provinzstädten, Alkmaar, Groningen, Haarlem, Gouda, Gorredijk, an Orten nieder, an denen das Einkaufs- und Unterhaltungspublikum leicht zu einem Impulsbesuch verleitet werden konnte ins Studio: gegenüber dem Kino in der Langestraat in Alkmaar, am Nieuwendijk und der Kalverstraat in Amsterdam oder im alten Electro-Kino in Veendam, wo die amerikanische Snelphotography Foto Cie eingezogen war.
Wie es oft passiert, wenn Unternehmer eine Sucht entdecken und Geld riechen, so war es auch mit den schnellen Fotostudios: Sie verschwanden oft so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Die Investitionen waren relativ gering: Für 750 Gulden (derzeit 8.000 Euro) konnte ein Atelier eingerichtet werden, das 200 Gulden im Monat einbrachte. Wenn sich ein schneller Fotograf in einer Einkaufsstraße niederließ, konnte er oft mit einem Konkurrenten im Nachbargebäude rechnen.
Besonderes Augenmerk legt Kienjet auf die Erfindung des nach Amerika ausgewanderten Russen Anatol Josepho. Nach einer kurzen Karriere als Assistenz-Speedfotograf kam ihm die Idee zum sogenannten Photomaton vor allem in Shanghai, wo er sich als Portrait- und Speedfotograf etabliert hatte. Seine „Automatic Photographic Machine“ wurde die erste vollautomatische Fotomaschine. Eines, das nicht wie andere Versuche oft ins Stocken geriet, sondern adäquat arbeitete und unermüdlich Porträts ausspuckte.
1927 stellte Josepho seinen ersten Photomaton am Broadway in New York auf. Vier Jahre später folgte ein ähnlicher „Fotoautomat“ im Kaufhaus Bijenkorf in Amsterdam, wo am Tag der Beauftragung eine Reihe von Dutzenden Metern von Kandidaten für ein automatisch produziertes Porträt auftauchte. Josepho hatte seine Erfindung zu diesem Zeitpunkt bereits für die astronomische Summe von einer Million Dollar verkauft. Investoren nahmen es als selbstverständlich hin, wurden Opfer von Betrug oder gingen im Börsencrash von 1929 unter, als Amsterdam die Neuheit gerade erst begrüßt hatte. Ähnliche Fotoautomaten gab es jedoch weiterhin, wenn auch unter anderen Markennamen: Auf Jahrmärkten, Märkten, in Spielhallen wurde das Publikum immer noch angelockt. Und die Urenkel des Photomaton sind immer noch am Rand der Abflughallen von Bahnhöfen zu finden, auch in den Niederlanden.
Die Geschicke des Photomaton sind symptomatisch für den Niedergang der schnellen Fotografie insgesamt. Nach dem Wahnsinn folgte die Gewöhnung, der Spaß ging verloren und höchstens wenn jemand ein Passfoto brauchte, kroch er noch in die Kabine. Ab den zwanziger und dreißiger Jahren kauften sich immer mehr Fotobegeisterte eine mittlerweile erschwingliche Kamera, mit der sie eigene Schnappschüsse und Selfies avant la lettre machen konnten. Die Blütezeit der schnellen Fotografie war definitiv vorbei.
Dass das Phänomen außer vergilbten Bildern in verstaubten Familienalben in Kellern und Dachböden so wenige Zeugnisse hinterlassen hat, liegt zweifellos an der relativen Anonymität der Unternehmer. Das waren keine „Autoren“, die künstlerische Spuren hinterlassen haben. Aber auch der Hintergrund der umtriebigen Schnellfotografen spielt eine Rolle: Viele waren jüdisch. Sie starben während des Holocaust und mit ihnen die Geschichten, die sie den kommenden Generationen hätten erzählen können.
Die Seiten, die Kienjet für die wunderbare Sammlung schneller Fotos reserviert hat, die er in vielen Archiven gesammelt hat, sind zahlreich. Mit dem Abstand eines Jahrhunderts schauen sie uns direkt ins Gesicht: die Damen mit ihren Hüten, die Herren in den schicken Anzügen, die Mädchen in ihren Sonntagskleidern, die Jungen mit ihren Mützen. Sie schauen uns ernst an – der Fleck des ewigen Selfie-Lächelns ist nicht auf ihren Gesichtern geblieben – aber auch ungehemmt: Das Fehlen des Fotografen vor ihnen bedeutete nicht, dass sie ihre Schüchternheit überwinden mussten. Und so kommen sie, obwohl sie zu Staub zerfallen sind, fast greifbar nahe.
Roman Kienjet: Der schnelle Fotograf – Eine Geschichte des modernen Porträts† Walburg Press, 208 Seiten; 29,99 €.
Neben dem Kino
Der Anhang von Der schnelle Fotograf enthält unter anderem eine Adressliste aller niederländischen schnellen Fotostudios. Die Electric Rapid Photography von Rinze van der Velde in Leeuwarden befand sich beispielsweise in der Nieuwestad, wo sich heute die bekannte Buchhandlung Van der Velde befindet. Die Langestraat 90 in Alkmaar war einst die Adresse eines schnellen Fotostudios, das jedes Foto klein druckte und sich „neben dem Kino“ befand. Das Gebäude, in dem dieses Kino untergebracht war, existiert noch. Durch sein Design ist die ursprüngliche Funktion noch erkennbar. Heute befindet sich dort das Schuhgeschäft Nelson.