„Oh nein, dieser verdammte Schlag!“ Am Mittwochmorgen um halb neun scheint Christina Panhoff (64) am Berliner Ostbahnhof die Einzige zu sein, die vergessen hat, dass heute kaum noch Züge fahren. Sie blickt sich in der eisigen Kälte auf die Bildschirme mit „Außer Betrieb“ um und schließt mit einem tiefen Schrei. Ssssscheisse. Was folgt, ist ein Rennen durch Berlin von der S-Bahn über den Bus zur U-Bahn, bei dem Panhoff zwischendurch ihre Analyse der deutschen Bahn abgibt: die Deutsche Bahn und alles, was sie plagt.
Am Mittwoch wurde in Deutschland ein Massenchaos befürchtet, nachdem die Lokführergewerkschaft GDL im Rahmen ihres Tarifstreits mit der Deutschen Bahn (DB) angekündigt hatte, den Zugverkehr im ganzen Land für drei Tage einzustellen. Aber jeder, der zur Hauptverkehrszeit zum Ostbahnhof ging, hätte eine Stecknadel fallen hören können. Der Notfallplan mit alternativen städtischen Verkehrsmitteln schien wie anderswo in Deutschland gut zu funktionieren. Viele Menschen blieben auch zu Hause oder fuhren mit dem Auto. Nach einer Woche voller Schlagzeilen rund um die Deutsche Bahn ist fast jeder Deutsche auf die Streiks aufmerksam geworden – der jüngste Tiefpunkt für das einstige Symbol deutscher Organisationswissenschaft und Pünktlichkeit.
Über den Autor
Remco Andersen ist Deutschlandkorrespondent de Volkskrant. Er lebt in Berlin. Als Nahost-Korrespondent gewann er für seine Arbeit in Syrien und im Irak den Lira-Preis für Auslandsjournalismus.
Auf dem Gleis herrsche schon seit Jahren ein Durcheinander, erzählt Panhoff, als sie schnell durch die Gänge des Ostbahnhofs zum Bus am Haupteingang läuft – und dort auf das Schild stößt: Hier endet die Fahrt. Panhoff coacht Arbeitssuchende. Eine ganze Gruppe von ihnen wartet im Bezirk Reinickendorf am Nordwestrand Berlins auf sie.
Eigentlich fährt sie nie mehr mit der Bahn, außer mit der Berliner S-Bahn (Teil der DB). Zu stressig, sagt Panhoff: Man weiß nie, wann man ankommt. „In den Achtziger- und Neunzigerjahren bin ich ausschließlich mit der Bahn gereist. Dann wussten Sie: Wenn ich morgen nach Frankfurt muss, gehe ich zum Bahnhof, kaufe ein Ticket und komme wie geplant an. Ich bin jemand, der gute Planung mag. Aber im Zug stimmt das nie mehr. Besonders schlimm ist es in den letzten fünf bis zehn Jahren geworden. „Ah, Bus 147 zum Leopoldplatz – den nehme ich.“
Panhoff bringt ihr Frankfurter Beispiel dafür, wie die Eisenbahn als ferne Erinnerung funktionieren soll, und das ist sie auch. Im vergangenen Jahr hatte ein Drittel der Fernzüge Verspätung. Im November war das fast die Hälfte. Wer kürzlich mit dem Zug von Amsterdam nach Berlin gefahren ist, weiß, dass ein Umsteigen in der Grenzstadt Bad Bentheim ein Wagnis ist, das zu stundenlangen Verspätungen führen kann. Die Eisenbahnen sind in einem schlechten Zustand. Die Liste der erforderlichen Investitionen der DB in Sanierung und Ausbau beläuft sich nach verschiedenen Schätzungen auf 90 bis 150 Milliarden Euro.
„Schlecht gemanagt“
Claus Weselsky ist diese Woche einer der berühmtesten Männer Deutschlands. Auf jeden Fall der berühmteste Gewerkschaftsführer. Außerhalb des Berliner Nervenzentrums der Streikenden, dem Gebäude der ehemaligen DDR-Parteizeitung Neues Deutschland In der Nähe des Ostbahnhofs listet der Chef der streikenden Lokführergewerkschaft GDL auf, wo seiner Meinung nach etwas schiefgelaufen ist. „Pünktlich und perfekt?“, fragt er, konfrontiert mit der langjährigen niederländischen Sichtweise auf die deutsche Eisenbahn. ‚Das ist das Ende.‘
„Wir haben kaputte Brücken, kaputte Tunnel, kaputte Weichen und zu wenige Überholgleise.“ Das ist nicht die Schuld der Lokführer, Schaffner, Serviceleiter oder Wartungstechniker: Die Deutsche Bahn wird schlecht geführt. Diese Regierung hat, und das schon seit Jahrzehnten, Geld verschwendet und an den falschen Stellen gespart. Sie bauen Eisenbahnen in Uruguay Und ein regionales Netzwerk in Torontoaber die Eisenbahnen zu Hause haben sie in einem schrecklichen Zustand hinterlassen.‘
Das sind die Worte eines wütenden Gewerkschaftsführers, dem unter dem strahlend blauen Berliner Winterhimmel fast der Dampf aus den Ohren steigt. Doch er ist mit seinen Vorwürfen nicht allein. Eine ausführliche Analyse zweier renommierter Bahnexperten im politischen Monatsmagazin Cicero letzten Monat so eröffnet:
„Der Niedergang der Deutschen Bahn begann vor rund zwanzig Jahren mit der Vision des Managements, einen internationalen, börsennotierten Mobilitäts- und Logistikkonzern aufzubauen. Gewinne aus Bahnkomponenten in Deutschland wurden zur Finanzierung des internationalen Wachstums verwendet. In diesen Teilen wurden drastische Kürzungen vorgenommen. Nach dem Scheitern des Börsengangs (im Jahr 2008) wurden die Ziele beibehalten und Ab 2012 begannen die Gewinne stetig zu sinken.‘
Für 2023 wird ein Verlust von 1,2 Milliarden Euro erwartet, hauptsächlich durch die Logistiksparte DB Schenker.
Die Deutsche Bahn ist mit fast 340.000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 56 Milliarden Euro das größte Eisenbahnunternehmen Europas. Es ist zu hundert Prozent im Besitz des deutschen Staates. Aber aufeinanderfolgende Verkehrsminister, die für die Aufsicht über das Unternehmen verantwortlich sind, haben es nicht geschafft, den Niedergang der Deutschen Bahn zu stoppen. Das sagt Christian Böttger, Professor an der Universität für Technik und Wirtschaft Berlin und einer der Autoren der Studie. Cicero-Artikel.
„In den letzten zehn Jahren saßen Regierungsvertreter weniger als zweieinhalb Jahre im Aufsichtsrat, verfügten über wenig Fachwissen im Bahnbereich und ließen die Deutsche Bahn ihr eigenes Ding machen.“ Die Vorstände der Deutschen Bahn und der Eisenbahngewerkschaft EVG stehen der politischen Kontrolle nahe. Obwohl staatliche Investitionen in DB von Leistungsindikatoren abhängig sind, sind sie äußerst gering. So erreichte die DB Jahr für Jahr ihre Ziele, während jeder sehen konnte, dass es der Bahn immer schlechter ging. „Es hat auf politischer Ebene einfach keinen Kampf um die Deutsche Bahn gegeben, während die Belastung des Netzes in den letzten zwanzig Jahren um 15 Prozent gestiegen ist.“
Die Deutsche Bahn räumt in einer Antwort ein, dass derzeit „die Pünktlichheit weder unseren eigenen Erwartungen noch denen unserer Gäste entspricht“. Das liegt an der Überlastung und der verschlechterten Infrastruktur, sagt das Unternehmen, aber auch an der Arbeit zur Behebung der Probleme: „Wir bauen dringend notwendige Modernisierungen in Rekordzeit.“
Der Politik den Rücken kehren
„Politiker müssen sich fragen: Was wollen wir mit der Bahn?“ sagt Guido Beduschi (50), Mitglied der Lokführergewerkschaft GDL, gebürtiger DDR-Bürger und Lokführer seit 1991. Er und zwei Kollegen genießen eine Ansprache an der frischen Luft, nachdem Gewerkschaftsführer Weselsky die Streikenden angesprochen hat. „Ist die Bahn nur etwas, das Menschen von A nach B bringt, oder ist sie eine lebenswichtige Dienstleistung wie Feuerwehr, Polizei und Schulen?“ Denn dann ist es die Aufgabe des Staates, Abhilfe zu schaffen. Wenn man die Regierungspartei Die Grünen hört, könnte man meinen, sie sei für die Schiene. Aber wenn man sich die Politik der Regierung anschaut, ergibt sich ein anderes Bild.“
Schauen Sie sich nur die Staatsausgaben für die Eisenbahn an, sagt Beduschi. Deutschland liegt mit 114 Euro pro Kopf und Jahr am Schlusslicht der europäischen Rangliste. mit nur Frankreich im Rücken (Die Niederlande liegen mit 575 Euro an der Spitze).
Letztes Jahr kündigte die Regierung an, dass sie in den nächsten fünf Jahren nicht weniger als 40 Milliarden Euro in die Eisenbahn pumpen werde, um die vierzig meistgenutzten Hauptbahnstrecken umfassend zu erneuern. Doch ein Teil davon ist aufgrund der deutschen Haushaltskrise bereits fraglich. Die Regierung plant nun will Deutsche-Bahn-Aktien für vier Milliarden Euro verkaufen.
Die Investitionen seien eine gute Sache, sagen Beduschi und seine Kollegen. Natürlich. Beduschi: „Aber dieses Geld ist für den Wiederaufbau gedacht, um Dinge nachzuholen.“ Und es reicht nicht aus, nur Geld reinzupumpen. Wir brauchen sachkundige Leute. Im Gesamtvorstand der Deutschen Bahn gibt es keinen einzigen Bahnexperten. „Lutz, Seiler, Huber“, zählt er an seinen Fingern ab, der Vorstandsvorsitzende, der Personalchef bzw. der Infrastrukturchef, „Das sind alles Manager.“ Das ist traurig.‘
Mittlerweile werde der Beruf immer weiter reduziert, sagt Beduschi. „Es mangelt an Zugpersonal, Wartungspersonal und Planungspersonal.“ Uns fehlt eine Generation Eisenbahner. Denn die Deutsche Bahn hat nicht genug nach vorne geschaut.“
Neue Realität
Coach Panhoff sieht darin ein größeres deutsches Phänomen, kurz bevor sie mit einem kurzen Winken in der U-Bahn U8 Richtung Reinickendorf verschwindet. „Mangelnde Visionen für die Zukunft, die Tendenz, Geld zu sparen statt zu investieren, und eine gewisse Arroganz.“ Die Idee, dass Deutschland in jedem Fall die Nase vorn auf dem Weltmarkt haben wird. Schauen Sie sich nur an, wie langsam der Ausbau des Glasfasernetzes hierzulande voranschreitet. Und das sieht man auch an der deutschen Automobilindustrie, wo man China unterschätzt hat. Biene Die Bahn Es ist nicht so sehr Arroganz. Mehr DumpfheitDummheit.‘
Am Ostbahnhof, nach Ende des morgendlichen Berufsverkehrs, ziehen drei S-Bahn-Fahrkartenkontrolleure mit einer Zigarette zwischen den Fingern am Haupteingang Bilanz. Sie wollen nicht, dass ihre Namen in der Zeitung erscheinen, weil ihr Arbeitgeber ihnen nicht erlaubt, mit der Presse zu sprechen. Dieser Streiktag verlief reibungslos, stellen die drei fest. Eine von ihnen, eine junge Frau: „Wir haben aus den vergangenen Zeiten gelernt, den kürzeren Streiks im November und Dezember.“ Auch wenn es eine Woche dauert, können wir es mit unseren Notfallplänen in Berlin bewältigen.“
Ein Zyniker könnte daraus schließen, dass die Deutschen nach Jahren der allmählichen Gewöhnung an Verzögerungen nun auch tagelange Bahnstreiks als neue Realität wahrnehmen.