Es ist legal und es funktioniert: Niederländische Sportler konsumieren massenhaft Backpulver. „Es boomt“

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Jeffrey Hoogland behält Harrie Lavreysen während der Weltmeisterschaft in Roubaix 2021 im Auge.Bild Klaas Jan van der Weij

Ein schwedischer Brei mit Backpulvertabletten hat sich im niederländischen Spitzensport schnell großer Beliebtheit erfreut. Von der Leichtathletik bis zum Skaten und vom (Bahn-)Radfahren bis zum Rudern: Das Medikament wird in vielen olympischen Sportarten eingesetzt, in denen die Niederländer hervorragende Leistungen erbringen. Natriumbicarbonat, wie Backpulver offiziell heißt, hat bei vielen Sportlern eine leistungssteigernde Wirkung und ist völlig legal.

Das Produkt des schwedischen Herstellers Maurten ist seit fast einem Jahr für jedermann erhältlich, in den Niederlanden ist es für einige jedoch schon seit einiger Zeit erhältlich. Zum Beispiel für den zweifachen Sprint-Olympiasieger Harrie Lavreysen. Seit einigen Jahren vermischt er regelmäßig Maurtens Bicarbonat-Kugeln und das mitgelieferte „Hydrogel“ in einer Schüssel und löffelt das eher geschmacklose Endergebnis auf. Für diejenigen, die olympische Erfolge anstreben, hilft jedes noch so kleine bisschen.

Lavreysen war wie seine Kollegen Jan-Willem van Schip und Matthijs Büchli ein Testsportler für Maurten, sagt Herman Reuterswärd, Sprecher des schwedischen Herstellers. Er erwähnt auch die niederländischen Ruderer und Jumbo-Visma-Anführer Primoz Roglic.

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Erik van Lakerveld schreibt seit 2016 über olympische Sportarten wie Eislaufen, Leichtathletik und Rudern.

Sie waren früh vor Ort und haben mit ihrem Feedback dazu beigetragen, das Produkt weiterzuentwickeln. Auch Sportler, wie die Trainingsgruppe von Laurent Meuwly, in der Femke Bol Mitglied ist, haben nun Zugriff darauf. Das Gleiche gilt für niederländische Skater, Shorttracker und Schwimmer, eigentlich alle wichtigen Lieferanten olympischer Medaillen.

Bikarbonat ist körpereigenes Material

„Wir haben vor etwa drei Jahren mit den Tests begonnen“, sagt Armand Bettonviel. Als „High Performance Expert TeamNL“ engagiert er sich bei NOCNSF und insbesondere bei den Sprintern auf der Radrennbahn, Shorttrack und Leichtathletik. Wer genau den neuen Brei auf der Eislauf-, Rad- oder Leichtathletikbahn essen wird, verrät er nicht.

Er möchte das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und den von ihm trainierten Sportlern nicht zerstören. Er möchte erklären, wie wichtig Bikarbonat sein kann. Zusammen mit Kreatin und Koffein gehört es zu den drei Substanzen, die die Leistung steigern können, aber nicht als Doping gelten (siehe Kasten).

Durch die Einnahme von Backpulver wird in der Muskulatur und im Blut ein Puffer gegen die Übersäuerung und gegen die Schmerzen geschaffen, die bei intensiver Anstrengung unweigerlich einhergehen. „Bikarbonat ist ein Stoff, den wir ohnehin schon im Blut haben“, erklärt Bettonviel. „Bei großer Anstrengung entsteht ein Überschuss an Wasserstoffionen, der vom Bikarbonat aufgenommen wird.“ Das passiert aber nicht auf Dauer, irgendwann wird das Bikarbonat nicht mehr vorhanden sein und es kommt zur Übersäuerung. Wenn Sie zusätzliches Bikarbonat einnehmen, können Sie den Schlag verzögern.

Pionier Jos Hermens

Das ist schon lange bekannt. Auch Jos Hermens, ehemaliger Läufer und Manager vieler führender Läufer wie Sifan Hassan, experimentierte selbst mit Backpulver. In den 1970er Jahren, als er selbst aktiv war, lag dieses noch in Pulverform gelöst in einer Flüssigkeit vor. Nachteil dieser Einnahmeart: Magenbeschwerden. Von Aufstoßen bis Übelkeit. Später wurden Kapseln entwickelt, die die Verdauung etwas erleichterten.

Ihr sogenanntes „Bicarb-System“ ist für viele Menschen sogar bekömmlicher als andere Bikarbonat-Produkte. Das liegt an dem Gel, in dem die winzigen Backpulverkügelchen schwimmen. Es sieht aus wie Froschlaich, sorgt aber dafür, dass das Bikarbonat unbeschadet durch den Magen gelangt und erst im Darm seine Wirkung entfaltet.

Bei Maurten merkt man, dass der niederländische Spitzensport schnell auf sein neues Produkt reagiert hat. Vor allem, als bekannt wurde, dass das Radsportteam Jumbo-Visma es nutzte. „Die Niederlande sind eine führende Region“, sagt Reuterswärd. Er vermutet, dass es mit dem hohen Niveau des niederländischen Sports zusammenhängt, aber auch mit der führenden Position der Niederländer in Managementagenturen.

Sifan Hassan?

Dies ist insbesondere im Laufsport der Fall, wo Hermens‘ Global Sports Communication eine wichtige Rolle spielt, wo aber auch Bahnradfahrer Lavreysen unter Vertrag steht. Vor Jahren arbeiteten sie gemeinsam mit Maurten an einer neuen Sporternährung für Eliud Kipchoge.

Der Kenianer wollte einen Marathon in weniger als zwei Stunden laufen. Dies gelang 2019 bei einem inoffiziellen Marathon in Wien. Die Zusammenarbeit mit dem schwedischen Unternehmen endete damit nicht. Hermens: „Wir Niederländer verstehen uns oft gut mit Skandinaviern.“

An der Entwicklung der Backpulverpaste, die sich inzwischen einen Namen macht, waren auch Läufer aus dem Stall von Hermens beteiligt. Auch Sifan Hassan? Hermens: „Das kann ich nicht sagen.“ Ohnehin werden von Trainern und Betreuern nur wenige Namen genannt. Sie schauen nicht gerne darauf, wer es genau nutzt und wer nicht. Das ist ein Geschäftsgeheimnis. Nur Maurten ist bei Namen großzügiger. Verständlicherweise profitieren sie aus Marketingsicht davon.

Kein Wundermittel

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum sich Innovationen in den verschiedenen Sportarten in den Niederlanden so schnell verbreiten, vermutet André Cats, Direktor für Spitzensport bei NOCNSF. „Das hängt von unserem kollektiven Netzwerk ab.“ In Papendal kommen viele Linien des niederländischen Spitzensports zusammen. „Die Niederlande sind klein, aber das ist bei solchen Entwicklungen auch ein Vorteil.“ „Das Wissen wird schnell weitergegeben und reicht von rein olympischen Sportarten wie Rudern, bei denen der kommerzielle Input minimal ist, bis hin zum Radfahren und allem dazwischen.“

Es sei nicht so, dass es eine Eile gegeben hätte, Maurtens Backpulvermischung zu verwenden, sagt Bettonviel. Jede Sportart hat ihre Experten, die unabhängig agieren können, aber es gibt viele gegenseitige Kontakte. „Das Einzigartige an den Niederlanden ist, dass viele Trainer und Sportprogramme zusammenkommen.“ Das ist ein natürlicher Prozess.“

Bikarbonat ist übrigens kein Allheilmittel. Ja, Untersuchungen zeigen, dass es eine positive Wirkung haben kann, aber das trifft nicht auf alle zu. Nicht einmal in der neuen Form, sagt Jac Orie, der in seinem Eislaufteam seit mindestens zwanzig Jahren mit Bikarbonat arbeitet. „Dieses Produkt funktioniert ein wenig anders, aber es ist keine wirklich große Veränderung.“ Es gibt Sportler, bei denen altmodische Kapseln sogar noch besser wirken als diese Paste. Ich glaube, die Aufteilung liegt bei etwa fünfzig zu fünfzig.‘

Teuerer Witz

Das gibt der schwedische Hersteller sofort zu. Es gibt Sportler, die alte Methoden bevorzugen oder mit Bikarbonat überhaupt keine besseren Leistungen erbringen. „Aber ich denke, dass unser System der Mikropillen mit einer speziellen Beschichtung etwas gleichere Wettbewerbsbedingungen geschaffen hat.“ „Mittlerweile gibt es mehr Menschen, die Bikarbonat ohne Magenprobleme verwenden können“, sagt Reuterswärd.

Bei den Leichtathletik-Weltmeisterschaften im August in Budapest war das „Bicarb-System“ der letzte Schrei. Sportler, die es hatten, aber bereits in Vorrunden ausgeschieden waren, verkauften ihren Bestand an Mitsportler, die zwar noch teilnehmen durften, aber selbst nicht über den Brei verfügten. „Es boomte wirklich“, sagt Reuterswärd. „Es war faszinierend zu sehen, wie das gelaufen ist. Unser Produkt ist teuer und viele Sportler in der Leichtathletik sind gar nicht so wohlhabend. Ich verstehe, dass einige Sportler ihr Bikarbonat weiterverkaufen.“

Es ist in der Tat nicht billig. Eine Packung mit vier Dosen kostet online leicht über 60 Euro. Und während Sie 90 Kapseln für etwas mehr als 20 Euro kaufen können, reicht das für 45 Versuche, da Sie diese Kapseln paarweise einnehmen. Und wenn Magenprobleme für Sie selbstverständlich sind, können Sie im Supermarkt Backpulver natürlich auch für wenig Geld kaufen.

Olympisches Gold

Es ist nicht in allen Sportarten gleichermaßen nützlich. Dies funktioniert insbesondere bei Anstrengungen, die etwas mehr als eine Minute bis etwa 12 Minuten dauern und bei denen der Athlet wirklich sein Bestes gibt. Nicht umsonst war Nils van der Poel, der schwedische Skater, ein geeigneter Testsportler für Maurten.

Er nennt Maurtens Brei einen „Game Changer“ und hatte fast ein schlechtes Gewissen, weil er während der Spiele in Peking der Einzige war, der Zugriff auf die neueste Version hatte, während die Niederländer noch mit früheren Versionen auskommen mussten. Aber ist überzeugt, dass es ihm geholfen hat, olympisches Gold über 5 und 10 Kilometer zu gewinnen.

Bikarbonat ist auch ideal für Bahnradfahren, Schwimmen und Shorttrack-Sportarten, bei denen im Voraus klar ist, wie lange die Anstrengung dauern wird. Im Straßenradsport dient das Backpulver vor allem als zusätzlicher Energieschub auf den letzten Kilometern eines Rennens oder bergauf. Aber nicht jeder profitiert davon. Der Gewinner des Gelben Trikots, Jonas Vingegaard, ist dafür bekannt, dass er es im Gegensatz zu Roglic nicht trägt.

Nichts für Ausdauersportler?

Auch Bettonviel warnt. „Wenn es nicht hilft, schadet es dann auch nicht?“ Nein, damit bin ich wirklich nicht einverstanden.‘ Nehmen Sie an Ausdauersportarten teil, bei denen Laktat neben Zucker und Fett ein Treibstoff für den Körper ist. Wer der Muskelzelle mit Backpulver Laktat entzieht, wird bei längerer Anstrengung nur im Weg stehen. Es passt zu dem, was Hermens bei Marathonläufern sieht. „Die meisten nicht.“

Bei Sportarten wie Fußball ist es komplizierter, da sich die Leistungsmuster weniger leicht vorhersagen lassen. „Ich weiß, dass wir bei Ajax auch darüber gesprochen haben“, sagt Bettonviel. „Man kann sich vorstellen, dass einige Fußballspieler, die viele Sprints absolvieren und während des Spiels unter einer Übersäuerung leiden, davon profitieren könnten.“ Aber man muss es im Kontext dieser Sportart und für jeden Einzelnen genau betrachten.“

Es mache jedenfalls keinen Sinn, es versehentlich zu benutzen, sagt Bettonviel. Es ist gut zu testen, welche Dosierung und welche Einnahmezeitpunkte für einen Sportler die beste Wirkung haben, aber Bicarbonat als Standardergänzung für das Training ist unklug.

Es besteht die Gefahr, dass der Körper bei häufiger Anwendung sein eigenes Bikarbonatsystem weniger stark aufbaut und dadurch weniger resistent gegen Übersäuerung wird. „Meine Philosophie ist, dass Sie Ihren Körper während des Trainings so gut wie möglich für sich selbst sorgen lassen sollten. Bei Wettkämpfen nimmt man zusätzlich Bikarbonat zu sich.“

Koffein und Kreatin

Neben Bikarbonat gibt es noch zwei weitere Stoffe, die sich positiv auf die sportliche Leistung auswirken können: Koffein und Kreatin.

Koffein stand lange Zeit auf der Dopingliste, wurde aber nach 2004 wieder von der Dopingliste gestrichen, da es in so vielen normalen Lebensmitteln vorkommt und ein Verbot praktisch unmöglich war. Koffein stimuliert das Zentralnervensystem, macht aufmerksam und kann die Ausdauer verbessern sowie das Schmerzempfinden beim Training reduzieren. Ob man es in Form von Pillen, Kaugummis, Sportgetränken oder einfach mit einer Tasse Kaffee einnimmt, die Wirkung ist in etwa ähnlich, obwohl es nicht bei jedem gleich gut wirkt.

Kreatin ist ein körpereigener Stoff, der auch als Nahrungsergänzungsmittel eingenommen werden kann. Kreatin versorgt die Muskeln bei kurzen, sehr intensiven Anstrengungen wie Sprints oder Gewichtheben mit Energie. Ein Nachteil von Kreatin kann sein, dass es zu einer Gewichtszunahme führt. Wie bei Koffein und Bikarbonat profitiert nicht jeder von der Einnahme von Kreatin. Bei etwa einem Drittel der Sportler tritt kein Effekt auf.



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