Nachdem sie jahrelang am Rande des politischen Abgrunds schwankte, ist Deutschlands linksextremste Bundestagspartei am Dienstag darüber hinweggefallen. Die Linke, ein Nachkomme der Sozialistischen Einheitspartei der späten DDR, wird am 6. Dezember ihren Status als Fraktion im Deutschen Repräsentantenhaus verlieren. Damit droht ein historisches politisches Möbelstück Deutschlands von der Bildfläche zu verschwinden.
Tatsächlich ist Die Linke nicht gestürzt, sondern gedrängt worden. Die Linke hat in den letzten Jahren stark an Popularität gewonnen. Der Richtungskampf, der teils Ursache, teils Folge ist, wird öffentlich ausgetragen. Die Parteispitze der Linken forderte ihre Mitglieder dazu auf, sich daran zu erinnern, dass politische Feinde nicht innerhalb, sondern außerhalb der Partei gesucht werden sollten. Die Wähler gingen kopfschüttelnd weg.
Bewegung Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht (54) hofft nun auf ihre neue Partei. Der langjährige Abgeordnete trennte sich im Oktober von der Linken und will im Januar 2024 eine neue Partei gründen. Der Auftakt dazu ist nach ihr benannt: Bewegung Sahra Wagenknecht (BWS). Das ist ungewöhnlich in Deutschland, wo Politiker normalerweise den Anschein eines Personenkults vermeiden. Sie nahm acht weitere linke Abgeordnete mit. Dies bedeutet, dass Die Linke von 37 auf 28 Sitze schrumpft, was unter der deutschen Wahlhürde liegt, und das Recht verliert, eine Fraktion im Parlament zu halten. Die Partei hofft, die Regierungsperiode als Gruppe zu absolvieren, eine Ausnahmeregelung, bei der die Mitglieder zwar wählen dürfen, aber viel weniger Debattenrechte und finanzielle Unterstützung haben.
Über den Autor
Remco Andersen ist Deutschlandkorrespondent de Volkskrant. Er lebt in Berlin. Als Nahost-Korrespondent gewann er für seine Arbeit in Syrien und im Irak den Lira-Preis für Auslandsjournalismus.
Wagenknecht spielt seit Jahren eine führende Rolle in den heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Linken und deutet immer lauter die Gründung einer eigenen Partei an. Das ist in Deutschland ein äußerst riskanter Schritt. Der Bundestag wendet eine Wahlsperre von 5 Prozent (37 Sitze) an. Politische One-Shotter wie in den Niederlanden gibt es in Deutschland nicht: Das niederländische Äquivalent der Wahlhürde läge bei 7,5 Sitzen. Erhält eine Partei nicht genügend Stimmen, werden ihre Stimmen unter den Parteien aufgeteilt, die die Schwelle erreichen.
Offenbar ist Wagenknecht zu dem Schluss gekommen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Sie könnte Recht haben. Am Tag nach Wagenknechts Trennung berechnete die Rechercheagentur Insa im Auftrag der Boulevardzeitung Bild am Sonntag, dass 27 Prozent der Deutschen sich vorstellen können, Wagenknecht zu wählen. Etwa 14 Prozent sagten, sie würden es tatsächlich tun, „wenn nächsten Sonntag Wahlen wären“.
Zurück zur konservativen Linken
Wagenknecht will zur konservativen Linken zurückkehren: eine große Regierung, eine strenge Migrationspolitik und nicht zu viel Energie in Themen wie LGBTI-Rechte oder Klimaschutz stecken. Zuvor hatte sie gesagt, dass sie den Sozialismus, wie er in der DDR existierte, einschließlich der politischen Unterdrückung, jetzt missbillige. Was Wagenknecht will: Fast alle lebenswichtigen Sektoren in den Händen der Regierung. Wohnen, öffentlicher Verkehr, medizinische Versorgung, Energieversorgung. Sie flirtet mit der extremen Rechten, die sie zuvor nicht von einer von ihr mitorganisierten Demonstration gegen die deutsche Rüstungsunterstützung für die Ukraine ausschließen wollte.
Wagenknecht scheint es gezielt auf Menschen abgesehen zu haben, die den Mittelparteien nicht mehr vertrauen und sich vom demokratischen Prozess abwenden. Zuvor stellte sie Corona-Maßnahmen in Frage, eine Position, die bis dahin der rechtsextremen AfD vorbehalten war. Auch ein gewisses Maß an Populismus scheint Teil des politischen Rezepts zu sein. „Statt in einen guten Zustand der öffentlichen Dienstleistungen zu investieren, haben Politiker den Wünschen einflussreicher Lobbys gedient und damit die Staatskasse geleert“, erwähnt sein Gründungsmanifest. Das Wort „links“ wird in ihrem Parteinamen nicht vorkommen, sagt Wagenknecht in deutschen Medien.
Eine Konsequenz aus Wagenknechts Manöver auf der politischen Bühne dürfte wohl kaum rückgängig gemacht werden. In den Umfragen schwankt Die Linke zwischen 3 und 4 Prozent, weit entfernt von der erhofften Rückkehr zu einer Fraktion bei der Wahl 2025. Und darin ist der Einfluss von Wagenknechts aufstrebender Partei noch nicht eingerechnet.
Förderer der Ostdeutschen und der sozial Schwachen
Die Linke entstand 2005 aus dem Zusammenschluss zweier Vorgänger: der überwiegend westdeutschen Sozialdemokraten der WASG von Oscar Lafontaine und der ostdeutschen Antikapitalisten der PDS, den direkten Nachfolgern der Einheitspartei der DDR (SED). Die Linke versteht sich seit jeher als Beschützerin der sozial Schwachen und als Verfechterin der ostdeutschen Arbeiter, denen bei der Wiedervereinigung wirtschaftlicher Wohlstand versprochen wurde, sie aber zu wenig erhielten. In den letzten Jahren haben sich auch viele junge Menschen angeschlossen, die von einer Basispartei aus gegen den Klimawandel, Rassismus oder Sexismus kämpfen wollen.