Der Mann hinter den europäischen Sanktionen gegen Russland ist zugänglich, sanft und sogar süß

Der Mann hinter den europaeischen Sanktionen gegen Russland ist zugaenglich


Björn Seibert (r) im Gespräch mit der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, während einer Sitzung des Europäischen Parlaments.Bild Getty Images

Vorherbestimmung ist vorhanden, sonst wäre Björn Seibert nicht im dreizehnten Stock des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel, dem Sitz der Europäischen Kommission. Wenn jemand dazu bestimmt war, im Frühjahr 2022 im Auftrag der EU ein Sanktionspaket nach dem anderen gegen Russland zu schnüren, dann die 41-jährige Privatsekretärin von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. „Seine Unerschütterlichkeit rettet alles“, sagt ein hochrangiger Beamter.

Die richtige Person, an der richtigen Stelle, zur richtigen Zeit, das sieht Seibert selbst. Die Deutsche hat in den USA Politikwissenschaften studiert, jahrelang an renommierten Instituten wie Harvard und MIT zu Sicherheitsfragen gelehrt, danach sechs Jahre im Bundesverteidigungsministerium unter von der Leyen als Ministerin gearbeitet, ist mit ihr nach Brüssel gegangen und – als eine der ganz wenigen – ihr Ohr.

All das macht ihn zum Dreh- und Angelpunkt der schwersten Sanktionen, die die EU je gegen ein Land verhängt hat. Das sechste Paket – inklusive Ölboykott – folgte am Mittwoch in weniger als drei Monaten. Der Sanktionsmann von Brüssel, obwohl Seibert der letzte ist, der das propagiert. Der Antiheld wird er genannt. Ein Beamtenkollege: „Der braucht gar nicht zu schreien ‚Ich bin der Chef‘.“

Grind zwischen politischen Intrigen

Zum Start seines Brüsseler Jobs 2019 – als Stabschef ist er der höchste politische Beamte der Kommission – prophezeien deutsche Medien Unheil und Widrigkeiten: Seibert habe null Europaerfahrung, kenne niemanden in der Brüsseler Blase, an der er scheitern werde offizieller Widerstand von den politischen Intrigen im Berlaymont niedergeschlagen werden. Nichts stellt sich als weniger wahr heraus.

Trotz der Corona-Pandemie, die auch die von der Leyen-Kommission weniger als hundert Tage nach ihrem Start für Zoom und Teams verurteilt, saugt Seibert alle Akten in rasender Geschwindigkeit auf. „Unglaublich, wie viele Informationen dieser Mann verdauen kann“, sagen die Kabinettschefs anderer Kommissare. „Ich kann nicht glauben, dass er noch steht.“

Seine erste Erfahrung mit der Biden-Regierung verheißt nichts Gutes. Brüssel wird sich im Frühjahr 2021 an Washington wenden, um Hilfe und Zusammenarbeit bei der Herstellung von Impfstoffen zu erhalten. „Kommen Sie wieder, wenn wir alle hier geimpft haben“, lautet die Antwort. Amerika zuerst.

Seibert entscheidet, dass zunächst das Vertrauen wiederhergestellt und die unter Trump (und seinen Vorgängern) angehäuften Blockaden beseitigt werden müssen: der 17-jährige Kampf um die Subventionen für Boeing und Airbus; die US-Importzölle auf europäischen Stahl; und der Konflikt um die Sicherheit personenbezogener Daten. Wie durch ein Wunder gelingt ihm und seinem Team dies.

Im November wird von der Leyen US-Präsident Biden in Washington treffen. Er kommt frisch von einem Briefing mit seinen Sicherheitsberatern und äußert seine tiefe Besorgnis über die russische Truppenaufstockung in Weißrussland und an der Grenze zur Ukraine. Ganz entgegen der Gewohnheit teilt Biden die streng vertraulichen Informationen mit seinen Brüsseler Gesprächspartnern.

Das ist gut angelegtes Geld für Seibert. Erfahren und versiert in Sicherheitsfragen, erkennt er den Ernst der Lage wie kein anderer. „Die Informationen der Sicherheitsdienste sind in Geheimsprache verpackt. Seibert kennt den Code“, sagt ein Beamtenkollege.

Ungewöhnlich ist auch der Besuch, den der CIA-Chef im selben Monat in Brüssel abstattet. Einen separaten Zwischenstopp legt er nach einem Besuch in Osteuropa ein. Die Botschaft der Amerikaner: ‚A war is coming.‘

Cote que coûte Zwietracht verhindern

Was folgt, sind Monate immer intensiverer Konsultationen zwischen engen Mitarbeitern von Biden und Seibert mit seinen Mitarbeitern. Dazu werden im Untergeschoss des Berlaymont spezielle gesicherte Verbindungen eingerichtet. Was beide Seiten coûte que coûte vermeiden wollen, sind Zwietracht im Westen, wenn Putin in die Ukraine einmarschiert. „Es ging um mehr als Sanktionen“, sagte Daleep Singh, Sicherheitsberater Bidens, später. „Es ging um die Grundfrage: Können wir liefern? Ist die Demokratie stärker als die Autokratie? Das mussten wir beweisen.“

Seibert und Singh telefonieren mindestens zweimal am Tag: frühmorgens um 6 Uhr US-Zeit, wenn Singh gerade aufgewacht ist, und gegen Mitternacht europäischer Zeit, wenn Seibert noch bei der Arbeit ist. Der Mann arbeitet rund um die Uhr, das wissen seine Kollegen. Einen Tag nach der Geburt seiner Tochter sitzt er bereits im Flugzeug nach Indien.

Seibert will, dass die EU bei den Sanktionen eigene Akzente setzen kann und nicht gezwungen wird, sich den USA anzuschließen. Nicht nur, weil die Ukraine an die EU grenzt, sondern auch, weil die europäischen Exporte nach Russland 80 Milliarden Euro pro Jahr betragen, von den USA nach Russland 4 Milliarden Euro.

Das Ergebnis sind umfangreiche Abstimmungen und eine reibungslose Zusammenarbeit in den Sanktionspaketen. „Unterschätze niemals die Bedeutung von Vertrauen“, sagt Singh und nennt Seibert einen „wahren Freund“. Was dabei hilft, ist, dass Seibert die amerikanischen Umgangsformen durch und durch kennt. Außerdem trägt er am liebsten Sneakers, von Asics. Als er Macron im Elysée besuchte, behielt er sie an, er hatte ein Paar schicke Schuhe vergessen. Noch immer schmunzelt er über die missbilligenden Blicke des französischen Beamten-Trosses.

Kritiker meinen, Seibert agiere zu zurückhaltend und höre zu sehr auf Berlin. Der Ölboykott hätte im dritten Sanktionspaket stehen sollen, nicht nur im sechsten. Es hätte ein Verbot von russischem Gas enthalten sollen. „Seibert legt die Messlatte immer so niedrig, dass alle Mitgliedsstaaten sie überschreiten können. Er macht es den EU-Staaten zu einfach“, sagt einer der Kritiker.

Seibert kennt die Kritik. Er kennt aber auch besser als jeder andere die Befindlichkeiten und divergierenden Interessen der Mitgliedstaaten. Und ohne Einstimmigkeit unter 27 keine Sanktionen. Typisch für Seibert ist, dass er die Sanktionsvorschläge im Vorfeld mit kleinen Gruppen von EU-Botschaftern diskutiert. Sie üben dann Druck auf den größten Schläfer aus, damit er nicht die volle Schicht bekommt. „Ein Trick, den ich in mein Heft ‚Strategisch operieren‘ aufgenommen habe“, sagt ein Diplomat.

– Seibert ist ihr oberster politischer Berater als Stabschef von von der Leyen. Er begleitet sie bei fast allen Besuchen und Treffen. Ihm obliegt die politische Führung des wöchentlichen Treffens mit den Kabinettsleitern aller Kommissionsmitglieder, bei dem die Entscheidungen der Kommission vorbereitet werden. Außerdem bereitet er die Besetzung von Spitzenpositionen in der Kommission vor. Er berät sich regelmäßig mit den EU-Botschaftern der Mitgliedstaaten über drängende politische Probleme sowie mit dem Stab von EU-Präsident Michel.

– Der Kabinettspräsident der Kommission wird selten gemocht. Er oder sie gilt bestenfalls als schwieriger Torwächter, meist fällt das Urteil aber eher negativ aus: eine bissige Bulldogge, die andere von seinem Herrn fernhält. Umso bemerkenswerter sind die Meinungen von Seibert, einschließlich der seiner Kritiker: nahbar, sanft, ja, sogar süß.

Diese Geschichte basiert auf Gesprächen mit sieben Personen, die Seibert eng kennen. Aufgrund ihrer Positionen wurden die Zitate anonymisiert.



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