Es ist vielleicht die schwindelerregendste Vorstellung der modernen Physik: dass sich die Realität im kleinsten Maßstab völlig anders verhält, als wir es gewohnt sind.
Nehmen wir zum Beispiel die Elementarteilchen, die kleinstmöglichen Bausteine von allem. Egal wie klein oder groß man es sich vorstellt, ob Menschen, Wolkenkratzer, Parasiten oder sogar ganze Galaxien, alles besteht aus solch winzigen Teilchen. Diese Teilchen unterliegen den widersprüchlichen Gesetzen der Quantenphysik, die es ihnen unter anderem ermöglichen, sich an mehreren Orten gleichzeitig aufzuhalten. Dies wird in Quantenkreisen „Superposition“ genannt. Als Mensch kann man nie gleichzeitig auf dem Martini Tower und dem Empire State Building sein, aber in dieser kleinen Teilchenwelt schon.
Über den Autor
George van Hal verschreibt de Volkskrant über Astronomie, Physik und Raumfahrt. Er veröffentlichte Bücher über alles, vom Universum bis zu den kleinsten Bausteinen der Realität.
Es stellt sich die Frage: Warum dieser Unterschied? Warum können Teilchen Dinge tun, die Alltagsgegenstände nicht können? Gibt es eine Grenze? Und was vielleicht noch wichtiger ist: Was verrät das über die Grundregeln, auf denen unsere gesamte Realität beruht?
Auf der Suche nach Antworten versuchen Physiker daher, die winzige Quantenwelt mit ihren bizarren Gesetzen auf unsere eigene auszudehnen. Und das führt zu immer größeren Erfolgen. Wörtlich.
Nehmen Sie das Ende April von Physikern beschriebene Experiment im Magazin Wissenschaft. Darin zeigen sie, wie sie einen 16,2 Mikrogramm schweren Kristall gleichzeitig in zwei Richtungen zum Schwingen bringen: von Norden nach Süden und von links nach rechts. Völlig skurril natürlich: als würde man auf den modernen Snollebollekes-Klassiker springen Links rechts tanzt gleichzeitig in beide Richtungen.
Schrödingers Katze
Klar, 16,2 Mikrogramm klingen wenig, aber nach Quantenmaßstäben ist es gigantisch. Der Kristall besteht aus etwa hundert Billiarden Atomen, 100.000.000.000.000.000, einer 1 mit – zählen Sie sie einfach – 17 Nullen. Und das, während es dem bisherigen Rekordhalter „nur“ gelang, rund zweitausend Atome zur Überlagerung zu bringen. Mit diesem Experiment nähern sich Physiker sogar der Grenze eines der berühmtesten Gedankenexperimente der Physik: dem von „Schrödingers Katze“.
Dieses Experiment wurde vor 88 Jahren vom Physiker Erwin Schrödinger entwickelt. Er stellte sich eine Katze in einer Kiste mit festem Deckel vor. In dieser Kiste befindet sich ein tödliches Gift in einer Glasphiole. Diese Flasche kann aufgrund jedes Quantenprozesses zerbrechen, beispielsweise unabhängig davon, ob ein Atom radioaktiv zerfällt oder nicht. Dieser Zerfall löst dann einen Mechanismus aus, der die Flasche zerbricht. Wird das Gift freigesetzt, stirbt die Katze. Wenn nicht, wird er leben. Die Katze, so extrapolierte Schrödinger aus der Quantenphysik, befindet sich in einer Überlagerung von tot und lebendig, solange die Box geschlossen bleibt.
Das ist übrigens keine Metapher. „Unsere Sprache greift zu kurz, wenn wir über Überlagerungen sprechen“, sagt der Physiker Oriol Romero-Isart von der Universität Innsbruck. Bei der Vermischung von Leben und Tod kann sich kaum jemand wirklich etwas vorstellen. Genauso wie bei Partikeln, die sich gleichzeitig an mehreren Orten befinden. „Ich sehe es immer als ein verschwommenes Bild: ein über verschiedene Orte verteiltes Teilchen“, sagt er. So auch bei Schrödingers Katze: In der Kiste sollen sich Leben und Tod geradezu magisch vermischen.
Dekohärenz
Schrödinger erfand das Experiment einst, um die gängigste Interpretation der Quantenphysik lächerlich zu machen: Wenn man beim Nachdenken zu solch offensichtlich unsinnigen Schlussfolgerungen gelangt, stimmt etwas nicht, wollte er sagen. Daher ist es bemerkenswert, dass die Idee heutzutage gerade als Hilfsmittel dient, um Laien die Quantenphysik zu erklären.
Schließlich erweist sich „tot und lebendig zugleich“ als praktisches Beispiel für Überlagerung, während der geschlossene Deckel der Box sofort eine zweite Besonderheit der Quantenphysik verdeutlicht: die Tatsache, dass Überlagerung nur so lange existiert, bis man mit der Suche beginnt. Oder, eher Physiker: bis jemand eine Messung durchführt. Sobald Sie mit der Messung beginnen, verschwindet die Überlagerung. Ist die Katze dann tot oder lebendig, ist ein Partikel nicht mehr verschmiert, sondern scharf.
„Nach modernem Verständnis gibt es keine Grenze zwischen der Quantenwelt und der Alltagswelt“, sagt der Physiker Carlo Beenakker von der Universität Leiden. Es gibt also nichts Grundsätzliches, was verhindert, dass Billardkugeln, Katzen oder auch Menschen in Überlagerung geraten.
Dass so etwas nie passiert, hat nur einen praktischen Grund. „In der realen Welt ist man ständig mit allem um einen herum verstrickt“, sagt Beenakker. Physiker sprechen von „Verschränkung“, wenn zwei Teilchen quantenmechanisch miteinander verbunden werden, auch ohne dass sie durch irgendetwas Physikalisches miteinander verbunden werden. Diese massive Verschränkung von allem mit allem fängt Objekte der Alltagswelt in einer Art unsichtbarem Quantenspinnennetz ein.
Eine einzige Beobachtung – ein Lichtteilchen, das auf Ihr Auge trifft, eine Wärmeschwingung, die auf Ihre Haut trifft, der Wind, der durch Ihr Haar weht – reicht dann aus, um das gesamte Teilchennetz auf einmal aufzuheben. Als würde man gleichzeitig Milliarden und Abermilliarden Kisten aus Schrödingers Gedankenexperiment öffnen. Dieser Übergang von der Quantenphysik zum Alltag wird in der Physik „Dekohärenz“ genannt.
Schwere
„Der Mechanismus hinter der Dekohärenz wird gut verstanden“, sagt Romero-Isart. Die wichtigste verbleibende Frage lautet daher: Wie lange können Sie es hinauszögern? Dies ist unter anderem dann relevant, wenn man einen Quantencomputer bauen möchte, ein futuristisches Rechentier, das die Gesetze der Quantenphysik nutzt und daher möglichst lange vor Dekohärenz geschützt bleiben muss.
Darüber hinaus könnten die Antworten auf solche Fragen auf einer grundlegenderen Ebene mehr darüber verraten, wie die Realität im Innersten funktioniert. Gibt es beispielsweise einen Punkt, an dem Objekte für Quanteneffekte einfach zu schwer werden? Einigen Physikern zufolge mag die Quantenphysik die Schwerkraft nicht besonders: Je schwerer etwas ist, desto schneller erhält es seine Quanteneigenschaften.
Andere, wie Romero-Isart, hoffen, dass die Schwerkraft von Quantenobjekten uns etwas Neues lehren wird. „Ich bin wirklich neugierig, was mit dem Gravitationsfeld eines überlagerten schweren Objekts passiert“, sagt er. Nach Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie ist die Schwerkraft im Wesentlichen nur eine Krümmung von Raum und Zeit, ähnlich dem Grübchen, das eine schwere Bleikugel erzeugt, wenn man sie auf eine Schaumstoffmatte legt. „Überlagern sich auch Raum und Zeit um ein solches Objekt herum?“, fragt Romero-Isart. „Das ist wirklich Terra incognita, völlig unerforschtes Gebiet.“ „Wir haben keine Theorie, um vorherzusagen, was dann passieren wird.“
Interferenzmuster
Um die Quantengrenzen immer weiter zu verschieben, nutzen Physiker zwei Methoden: Dinge in mehrere Richtungen schwingen zu lassen oder Experimente mit Interferenzmustern, etwa das sogenannte Doppelspaltexperiment. Es macht sich die Tatsache zunutze, dass Teilchen auch Wellen sind, eine weitere seltsame Schlussfolgerung aus der Welt der Quantenphysik.
Oder, nun ja, seltsam: Eigentlich ist das sehr aufschlussreich, sagt Beenakker. „Bei Wellen ist es nicht so seltsam, dass sie gleichzeitig an mehreren Orten sein können.“ Es macht die Quantenphysik verständlicher.“
Wenn Sie zwei Steine in einen Teich fallen lassen, überlappen sich die entstehenden Wellen. Physiker nennen dies ein Interferenzmuster. Da Teilchen auch Wellen sind, passiert etwas Ähnliches, wenn man Teilchen durch zwei Schlitze strömen lässt. Jede Spalte dient dann als Kieselstein im Teich und erzeugt Wellen hinter beiden Spalten. Auch hier überlappen sie sich und erzeugen ein Interferenzmuster.
Aber jetzt kommt der Knackpunkt: Es funktioniert auch, wenn man jeweils nur ein Teilchen in diese beiden Schlitze schickt. In der Alltagswelt könnte sich nichts überlappen und interferieren, aber in der Quantenwelt entsteht das Interferenzmuster immer noch. Die einzige Erklärung? Dieses eine Teilchen muss beide Schlitze gleichzeitig passieren.
Mit diesem Experiment gelang den Physikern der bisher größte Erfolg bei der Skalierung von Quanteneffekten. Der bisherige Rekord, bei dem ein Molekül aus zweitausend Atomen bestand, wurde auf diese Weise erreicht. „Und wir denken jetzt auch über Mischformen nach: etwas, das sowohl einen zum Schwingen bringt als auch sich selbst stört“, sagt Romero-Isart.
Bärtierchen in Überlagerung
Darüber hinaus träumt Romero-Isart seit Jahren vom nächsten revolutionären Schritt: die Überlagerung von Lebewesen. „Wir nähern uns jetzt dem Punkt, an dem so etwas möglich wird“, sagt er. Seinen wichtigsten Kandidaten hat er bereits: das Bärtierchen. Dieses praktisch unzerstörbare Mikrowesen hat bereits Experimente im Vakuum des Weltraums außerhalb der Internationalen Raumstation überlebt. Und im Jahr 2021 tauchten sogar Berichte über verschlungene Bärtierchen auf, die sich jedoch später als maßlos übertrieben herausstellten.
„Die größte Herausforderung, wenn man Mikroorganismen überlagern möchte, besteht darin, sie von der Umgebung zu isolieren“, sagt er. Man muss sie extrem kühlen und in ein Vakuum stellen, um zu verhindern, dass sie Informationen mit der Umgebung austauschen. Mit dem Bärtierchen kann man das zwar noch machen, aber danach ist Schluss. Die meisten anderen Organismen überleben eine solche Behandlung nicht.
„Eine echte Schrödinger-Katze, geschweige denn ein Mensch, kommt daher absolut nicht in Frage“, sagt Romero-Isart. Und selbst wenn es Ihnen irgendwie gelingt, einen Menschen in einem solchen Experiment am Leben zu erhalten, wird es trotzdem scheitern. „Angenommen, Sie befinden sich gleichzeitig im Wohnzimmer und in der Küche, überlagert“, sagt er. „Dann siehst du, wo du bist, sobald du deine Augen öffnest.“ Und es geht nicht nur ums Schauen, wirklich jede Interaktion stört die Überlagerung.“
Die aktuellen Experimente zeigen daher vor allem, dass Schrödinger, ganz im Quantenstil, gleichzeitig Recht und Unrecht hatte. Eine Katze in Überlagerung bleibt aufgrund der Dekohärenz immer unmöglich. Gleichzeitig ist das, was er vorgeschlagen hat, in kleinerem Maßstab möglich, möglicherweise sogar mit lebenden Mikrowesen. Und diese Schlussfolgerung fühlt sich im Jahr 2023 immer noch genauso bizarr und unvorstellbar an wie vor 88 Jahren.