Ist die Türkei unter Erdogan islamischer geworden? Nun, weltlicher

Ist die Tuerkei unter Erdogan islamischer geworden Nun weltlicher


Zwei Türkinnen posieren Ende März vor der Hagia Sophia in Istanbul.Bild David Silverman/Getty Images

Islamisierung der Türkei? Nein, die türkische Gesellschaft wird immer weniger religiös. Der Islam ist auf dem Rückzug. Was Landesvater Kemal Atatürk nie wirklich gelungen ist, die Türkei säkularer zu machen, geschieht unter Präsident Recep Tayyip Erdogan automatisch, trotz aller Versuche, die Türkei konservativer und islamischer zu machen.

Deshalb hat Erdogan im Vorfeld der Wahlen am 14. Mai nicht Religion spielt als Trumpf. Er weiß sehr genau, dass er die jüngeren Wähler sicherlich nicht für sich gewinnen kann. Auch die Förderung der islamischen Bildung hat sie der Moschee nicht näher gebracht. Im Gegenteil, das habe ich bei der Recherche zu meinem neuen Buch herausgefunden. Die „Imam Hatip“-Schulen sind zum Abfluss des türkischen Bildungssystems geworden.

Über den Autor

Rob Vreeken Korrespondent für de Volkskrant In Istanbul. Sein Buch erscheint am 12. April im Verlag Prometheus Ein Heidenjob – Erdogan und die gescheiterte Islamisierung der Türkei.

Hierbei handelt es sich um einen eingereichten Beitrag, der nicht unbedingt den Standpunkt wiedergibt de Volkskrant spiegelt. Lesen Sie hier mehr über unsere Meinungspolitik.

Auch in der Türkei bekomme ich manchmal überraschte Reaktionen auf die Aussage im Untertitel des Buches, vor allem bei säkularen Menschen. Fast scheint es, als würde ich von ihrem vertrauten, vielleicht geliebten Angstbild ablenken: einer Türkei, die unter Erdogans AK-Partei zunehmend in islamische Gewässer vordringt.

Offizielle Rhetorik

Und in der Tat gilt das für Behörden, Regierungspolitik und offizielle Rhetorik. Die Frage ist nur: hat es in der Gesellschaft die von den Behörden gewünschte Wirkung? Meine Antwort: nein. Andererseits.

Angenommen, die Türkei islamisiert, wie viele Leute denken. Dann würden Sie erwarten, dass der Islam immer mehr fanatische Anhänger bekommt. Das Gegenteil ist laut Untersuchungen der Fall. Angenommen, die Türkei wird islamischer. Dann würde man erwarten, dass mehr Frauen ein Kopftuch tragen. Das Gegenteil ist der Fall. Angenommen, die Türkei islamisiert. Dann würden Sie erwarten, dass die religiösen Regeln über die Moral strenger eingehalten werden. Das Gegenteil ist der Fall. Für junge Menschen wird Sex vor der Ehe immer mehr zur Selbstverständlichkeit.

Angenommen, die Türkei wird islamischer. Sie würden dann erwarten, dass die Gesellschaft weniger tolerant gegenüber LGBT-Personen wird. Das Gegenteil ist der Fall. Angenommen, der Islam breitet sich in der Türkei aus. Dann sollte es so sein, dass Frauen sich an die sekundäre, dienende Position anpassen, die ihnen in der Scharia vorbehalten ist. Im Gegenteil, immer mehr Türkinnen fordern Gleichbehandlung.

„Fromme Generation“

Obwohl die meisten Menschen in der Türkei sagen, dass sie immer noch an Gott glauben, spielt die Religion im täglichen Leben der Türken eine immer geringere Rolle. Der von Erdogan immer wieder geäußerte Ehrgeiz, eine „fromme Generation“ zu kultivieren, ist im Sande verlaufen.

So stößt Erdogans konservative Agenda auf eine schlichte Realität: Auch in der Türkei lässt sich Gesellschaft nur bedingt machen. Was mit der Türkei und den Türken passiert, wird nicht primär von den Wünschen der Regierung in Ankara bestimmt, sondern von nachhaltigen Modernisierungsprozessen: Wirtschaftswachstum, Bildungszuwachs, kleinere Familien, Frauenemanzipation, Internetrevolution, Globalisierung, Urbanisierung. Erdogan und seine AKP haben es verloren.

Und während ich das Material für mein Buch sammelte, passierte ein Land entfernt etwas, das meine Aussage auf einen Schlag bestätigte. Das iranische Volk erhob sich gegen das Regime der Ayatollahs. Angeführt von jungen Frauen, die die Kleiderordnung satt hatten, verbrachten die Iraner Monate damit, ihrer Abneigung gegen religiöse Tyrannei Ausdruck zu verleihen.

Republikanische Proteste

Kein Land, in dem der Islam den Menschen jahrzehntelang so eingehämmert wurde wie die Islamische Republik. Und was ist das Ergebnis? Ist der Iran islamischer geworden? Nein, im Gegenteil. Wenn irgendwo klar wird, dass „Staat“ und „Gesellschaft“ zwei verschiedene Dinge sind, dann auf den Straßen von Teheran. Vor sechzehn Jahren, zur Zeit der massiven „Republikanischen Proteste“ unter anderem in Istanbul, Ankara und Izmir, warnten türkische Kemalisten: Achtung, die Türkei wird wie der Iran! Ihre Vorhersage wird nun wahr. Nur nicht so, wie sie es beabsichtigt hatten.

Aber lassen Sie mich nicht übertreiben. In Istanbul gibt es keine Ordnungspolizei, die die Straßen nach schlecht gekleideten Frauen absucht. In der Türkei steht die Wirtschaft trotz Inflation besser da als beim schiitischen Nachbarn. Seit den oben genannten Protesten hat es in der Türkei keine massiven Protestwellen gegeben, abgesehen von der einen Welle der Gezi-Bewegung im Jahr 2013. Und dass die Unzufriedenheit mit der Regierung nicht so groß ist wie im Iran, wie sich immer wieder zeigt bei Wahlen. Sie werden seit zwanzig Jahren von Erdogan und seiner AKP gewonnen.

Die Frage ist, ob ihnen das im Mai wieder gelingen wird. Die Umfragen deuten darauf hin, dass die AKP und ihr Koalitionspartner MHP ihre parlamentarische Mehrheit verlieren werden. Ob dies auch für Erdogan bei den Präsidentschaftswahlen gilt, ist weniger sicher. Es scheint sich in einen Cent zu verwandeln. Die neuen Wähler der Generation Z können den Ausschlag geben. Und jedenfalls machen sie Erdogans fromme Pläne für sie nicht mit.

Tut mir leid, Tayyip, aber das ist fehlgeschlagen.

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