Am Mittwoch erschien die letzte Folge der wunderbaren Serie „Wer sind meine Vorfahren?“ in der Zeitung, insgesamt zehn „persönliche Streifzüge“ in die koloniale Vergangenheit, beschrieben von Ianthe Sahadat, Elsbeth Stoker und Fleur de Weerd. Diesmal war Jochem, Ende dreißig, Beamter und entfernter Nachkomme von Zeeland-Sklavenhändlern. Zwischen den Zitaten fand ich einen Absatz, an dem ich lange kauen musste.
„Unter einer Suche wie der von Jochem nach der problematischen Vergangenheit Ihrer Vorfahren“, lese ich, „hängen zahlreiche Teilfragen: Kann man eine Erbsünde zurückzahlen? Gibt es überhaupt so etwas wie Erbsünde? Wie stehst du zu historischer Täterschaft? Wie rechnen Sie ab? Und fühle ich mich tatsächlich schuldig?‘
Natürlich unfähig
Meine Güte, hörte ich mich sagen. Zufälligerweise bin ich im orthodox-reformierten Flügel des Christentums aufgewachsen, wo sie besser als jeder andere wissen, wie man mit der Erbsünde umgeht. Mir wurde von klein auf beigebracht, dass ich in Sünde gezeugt und geboren wurde, von Natur aus zu allem Guten unfähig und zu allem Bösen anfällig bin. Kleiner Trost: Seit Adam und Eva hat dieses traurige Schicksal jeden ereilt – ohne Rücksicht auf die Person, unabhängig vom eigenen Verhalten oder dem der Vorfahren.
Heute bedeutet das Wort Erbsünde offenbar etwas ganz anderes. Heutzutage bedeutet es offenbar, dass Sie als Nachkomme auf die eine oder andere Weise zur Rechenschaft gezogen werden möchten, wenn sich Ihre Vorfahren schlecht benommen haben („historische Täterschaft“).
Wie Jochem es in diesem Interview tut.
Vor allem stört ihn, dass seine Vorfahren nie mit „moralischen Dilemmata“ zu kämpfen hatten. Nirgendwo in ihren Briefen wird die Frage gestellt, ob das, was sie taten, richtig war. Jochem selbst sieht sich „in der moralischen Pflicht“, diese Geschichte am Leben zu erhalten, er reflektiert „greifbare und bleibende Zeugnisse der leidvollen Familienvergangenheit“ und will verhindern, dass die Verstrickung in die Sklaverei (wieder) aus dem Familiengedächtnis versinkt. Er denkt auch an eine „gerechte Entlohnung“, nennt sie aber „sehr unentgeltlich“: Das Familienkapital sei längst verflogen.
Junge. Das Leben unter der orthodox-reformierten Erbsündenlehre soll keinen Spaß machen, das Leben unter der säkularen Variante sicher noch weniger. Weil Ihre Vorfahren im 18. Jahrhundert so leichtgläubig waren, dass sie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte des 20. Jahrhunderts nicht kannten, ringen Sie jetzt mit Schuldgefühlen? Weil sie damals skrupellose Sklavenhändler waren, drehen Sie jetzt tausend Ecken und Kanten? Natürlich kannst du. Ich frage mich, wer Ihnen dabei helfen wird.
Aber, so wird immer wieder eingewendet, kann man doch nicht ignorieren, dass die kolonialen Nachfahren bis heute von den Verbrechen ihrer Vorfahren profitieren? Vielleicht nicht so sehr finanziell, sondern weil sie im bequemen Besitz dessen sind, was man weiße Privilegien nennt? Stimmt. Und ein bisschen mehr Bewusstsein bei den Privilegierten unserer Gesellschaft, dass sie zu den Privilegierten unserer Gesellschaft gehören, wäre zweifellos ein Segen.
Zeitgenössische Errungenschaften
Zugleich ist es eine der sympathischsten Errungenschaften unserer Zeit, dass Sie jeden Einzelnen für sein eigenes Handeln verantwortlich machen und ihm seine Herkunft weder nachahmen noch vorwerfen.
Früher hattest du per Definition die Last des Familiennamens und der Ehre auf deinen Schultern, nicht mehr. Egal, wie sehr sich Ihre (Vorfahren-)Eltern daneben benommen haben, Sie sollen zu Recht nichts dagegen tun können. Jeder kann Sie nach dem moralischen Maßstab für Ihre eigenen Handlungen und Meinungen beurteilen, nicht für die Ihrer verstorbenen Verwandten. (Übrigens auch nicht Ihre Lebenden.) Obwohl sich Ihr Ur-Ur-Ur-Großvater wie ein bösartiger Menschenhändler benahm, benutzte Ihr Ur-Ur-Onkel täglich die Peitsche und Ihre Ur-Ur-Großmutter hatte Blut an sich Hände – du bist frei.
Eine solche Leistung sollte man nicht einfach so über den Haufen werfen. Und schon gar nicht gegen ein Sündenbewußtsein eintauschen müssen, das niemanden klüger macht.
Elma Drayer ist ein niederländischer Wissenschaftler und Journalist. Sie schreibt alle zwei Wochen eine Wechselkolumne mit Asha ten Broeke.