Um meiner Präsenz in Moskau einen gewissen Anschein von Relevanz zu verleihen, kaufte ich mir eine Kamera

Olga kann meine Handtucher haben ja jeder
Sylvia Weissmann

Ich habe einen Bericht in den Nachrichten gesehen: Junge Leute, die mit den Annehmlichkeiten der Digitalfotografie aufgewachsen sind, entdecken die altmodische Filmrolle wieder. Unbeholfen sah ich, wie diese Jugendlichen an ihrem Gerät herumfummelten. „Manchmal vergisst man, was man gedreht hat, und dann erlebt man diese Überraschung beim Entwickeln“, freute sich ein junger Mann, und ein Mädchen sprach von „einer gewissen Rohheit, die ich sehr mag“.

Ich dachte an meine eigene Fotografenkarriere zurück. 1991 Mitbewohner P. Tür Der Telegraph als Korrespondent in die damalige Sowjetunion entsandt. Da ich nichts Besseres zu tun hatte, ging ich mit, und um meiner Anwesenheit in Moskau einen Anschein von Relevanz zu verleihen, kaufte ich mir eine Kamera. Ein Analogon natürlich, weil es nichts anderes gab.

Ich habe P. zum Beispiel auf seinen Reisen begleitet und alles fotografiert, was es zu sehen gab. Diese Fotos waren sehr schlecht, aber sie dachten, das sei der Fall Der Telegraph nicht sehr. Sie haben diese Bilder einfach gedruckt und mich auch dafür bezahlt! Ja, das waren gute Zeiten für talentlose Freelancer.

Wir sind ein bisschen gereist. Ich habe zum Beispiel die unterschiedlichsten Dinge und Menschen fotografiert, darunter einen gefrorenen Wasserfall in Kirgisistan, eine Abtreibung in einer schmuddeligen Klinik, die von Trümmern bedeckten Leichen in der Stadt Neftegorsk nach einem Erdbeben und die Erstürmung des Moskauer Parlamentsgebäudes 1993.

Ich erinnere mich an einen Besuch in Ufa, der desolaten Hauptstadt der Republik Baschkortostan, wo alle an dem Trinkwasser erkrankten, das von einer schäbigen Chemiefabrik chronisch mit Dioxin vergiftet wurde. Ich fotografierte einen gräulichen, aber lakonischen Ufanesen am Wasserhahn in seiner sowjetischen Küche, der mit einem Grinsen erklärte: „Ich habe mein ganzes Leben lang Dioxin getrunken, und nichts stört mich.“

Und diese Rentiere. Wir waren in Sibirien für eine Reportage über wandernde Rentiere, die dort angeblich allgegenwärtig sind. Das ging nicht gut. Nach einer Woche hatten wir immer noch kein Rentier gesehen. Schade, aber wir mussten zurück. Am letzten Abend wurden wir von unserem Guide zum Abendessen eingeladen. Als ich in sein Badezimmer ging, um mir die Hände zu waschen, lag dort in der Badewanne ein riesiges totes Rentier, dessen Zunge wie aus einem Zeichentrickfilm herausragte. Ein Teil von ihm wurde etwas später zum Abendessen serviert. Ich habe auch Fotos von diesem Rentier gemacht.

„Eine gewisse Rohheit“, sagen Sie das. Ich habe keine Ahnung, wo all diese Bilder geblieben sind. Wie gerne würde ich sie wiedersehen! Ja, heute habe ich ein Smartphone, mit dem ich so viele Bilder machen kann, wie ich will. Und ich auch.

Aber leider: Sie sind es nicht wert, darauf zurückzublicken.



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