Die Italiener haben die Brüsseler Techno-Elite satt

Ueber Nutzen und Nachteil einer Buergerberatung zum Klima
Martin Sommer

Müssen wir uns vor Italien fürchten? Das Wochenmagazin Der Ökonom stellte die Frage vor den Wahlen am Sonntag. Dann kam EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen mit ihrer unschlagbaren Helga-Imitation aus der TV-Serie ‚Allo ‚Allo!: ‚Wir haben Werkzeuge.‘ Das war eine unverhohlene Drohung, wenn sich die postfaschistischen Italiener nicht benahmen. Die glattere Variante sagte Ministerpräsident Rutte, der zu Sven Kockelmann sagte, es sei „Wachsamkeit“ geboten; Er erwartete aber, dass die Italiener sich an „eine ganze Liste“ von Reformen halten, um sich für die Milliarden aus dem Corona-Wiederaufbaufonds zu qualifizieren.

Mehr Angst und Zittern als Neugier auf das Warum von Giorgia Melonis Sieg. Ihre Partei war die einzige, die vorher nicht regiert hatte, lese ich als Erklärung für den Erfolg. Die Vermutung war, dass die Fratelli d’Italia auf einer Art Verantwortungsurlaub gewesen waren. Lesen Sie auch: Der Rechtsruck sagt weniger über die Präferenz der Italiener als über das Scheitern der konservativen Mittelparteien aus. Wie in Schweden hätten sie sich niemals mit der extremen Rechten einlassen sollen. Sonst wäre kein Fleck in der Luft gewesen. Auch mit dieser Geschichte werden wir nicht viel klüger darüber, was Meloni mit ihrer krachenden Stimme und ihren aufgeregten Blicken so attraktiv macht.

Vor neun Jahren habe ich den deutschen Soziologen Wolfgang Streeck zu seinem Buch interviewt Gekaufte Zeit. Darin beschreibt er das Schneeballsystem, mit dem die EU interne Spannungen und Widersprüche mit immer höheren Kreditbergen freikauft. Aufgrund all dieser Schulden nimmt die gegenseitige Abhängigkeit zu und damit auch die Notwendigkeit eines „guten Verhaltens“, das von der Europäischen Kommission überwacht werden muss.

Während der Eurokrise 2012 machte EZB-Präsident Draghi seine berühmte „Whatever it takes“-Erklärung; die EZB würde unbegrenzt Schulden aufkaufen. Die Länder mussten reformieren, um ihre Staatsschulden loszuwerden. sagte Draghi im selben Jahr in einem Interview: ‚Viele Regierungen müssen erst noch erkennen, dass sie ihre nationale Souveränität längst verloren haben.‘ Sie können abstimmen, aber nicht wählen. Die Irritation darüber ist jedenfalls der Anfang einer Erklärung für Melonis Gewinn: Sie wird bald die erste Ministerpräsidentin seit 2011 – als Berlusconi an der Hand von Merkel und Sarkozy gegen den Technokraten Monti ausgetauscht wurde –, die aber nicht ernannt wurde gewählt wurde. .

Wolfgang Streeck konnte ich nicht erreichen, aber ich fand einige aktuelle Interviews. Wir erleben die x-te Folge seines Buches Gekaufte Zeit. Italien darf heute auf mehr als 200 Milliarden aus dem Brüsseler Corona-Hilfsfonds hoffen. Natürlich muss reformiert werden, wie Rutte mit Sven unterstrich. Meloni kann wenig tun, als sich Brüssel mit einer italienischen Staatsverschuldung von 150 Prozent des BIP zu beugen.

Es ist die Demütigung, die die Italiener erfüllt: eine Brüsseler Techno-Elite, die auf das Land herabblickt, das mit Reformen nicht vorankommt. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt wie vor zehn Jahren bei dramatischen 25 Prozent. Streeck schrieb bereits in seinem Buch, dass „eine ganze Generation in den Sumpf geht“. Wir sind viel Kredit weiter und nichts ist vorangekommen. Italien stehe vor einem langen und schmerzhaften Prozess, schreibt er Der Ökonom in dieser Woche. Das deutsche Bundesverfassungsgericht war das einzige, das zu sagen wagte: Wie lange werden diese schmerzhaften Reformen dauern, bis ans Ende der Zeiten?

Das europäische Währungssystem wird mit immer mehr Krediten über Wasser gehalten. Wo es mehr Geld als Waren gibt, folgt Inflation. Putin wird nun für explodierende Energiepreise verantwortlich gemacht. Aber die Inflation gibt es schon seit langem und macht sich in der gesamten Europäischen Union in den Haus- und Aktienkursen bemerkbar. Die Frage, die Streeck vor zehn Jahren gestellt hat, ist noch aktueller als damals: Wann ist die Zeit ausverkauft?

Streeck blickt auf die lange Schlange. Bis zum Fall der Mauer vereinte die Christdemokratie konservative Arbeitgeber und antikommunistische Arbeiter. Diese Kombination zerfiel nach 1989. Der alte Korporatismus wich der „Marktokratie“ und die Christdemokratie ging zugrunde. Etwas ähnliches geschah auf der linken Seite. Zuvor brachte die Sozialdemokratie Arbeiter und eine engagierte Mittelschicht zusammen. Drei Jahrzehnte später ist die intellektuelle Mittelgruppe grün und migrationsfreundlich geworden; Die Arbeiterklasse wurde verwaist, ebenso wie die Konservativen. Sie fanden sich nicht nur in Italien, sondern in der ganzen westlichen Welt.

Meloni hat ihre Anti-Euro-Gefühle geschluckt. Italien braucht diese 200 Milliarden dringend, es wird allen Bedingungen mürrisch zustimmen und gleichzeitig Sand in die Maschine werfen. Der Zusammenstoß mit der EU ist im Hinblick auf viel diskutierte europäische Werte zu erwarten. Die konservative Meloni ist entschlossen, die illegale Einwanderung zu stoppen, und das verstößt gegen die Brüsseler Orthodoxie, ebenso wie gegen ihr Schlagen beim Aufwachen und ihr Eintreten für die traditionelle Familie. Mit Blick auf Polen und Ungarn ist die Europäische Union nun auch moralisch unflexibel, mit finanzieller Unterstützung wieder als Mittel, die Zügel anzuziehen. „Wir haben Werkzeuge.“

Man muss nicht so konservativ sein wie Meloni, um die Gefühle der unangemessenen Brüsseler Einmischung teilen zu können. In den Niederlanden ist das Konzept von Europa à la carte ein Fluch in der Kirche der Brüsseler Regeln, die für alle gelten. Doch genau das ist es die Wolfgang Streeck befürwortet. Mehr Raum für nationale Individualität, weniger Brüsseler Zurückhaltung. Um ihn noch einmal zu zitieren: „Das Leben ist so viel einfacher, wenn man anderen nicht sagen muss, wie sie sich zu verhalten haben.“



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