Dass Äthiopien voller Schätze aus der frühen Steinzeit ist, war unbekannt, bis der Hobbyarchäologe Gerard Dekker 1963 bei einem Wochenendausflug auf die ersten Werkzeuge aus dieser Zeit stieß. Margherita Mussi, Prähistorikerin an der italienischen Sapienza Università di Roma, stolperte kürzlich mit ihrem Forschungsteam ebenso ahnungslos über einen neuen Fund: eine Werkstatt für Faustkeile aus 1,2 Millionen Jahre altem Vulkanglas.
„Wir sind in den Kanal des Simbiro hinabgestiegen, ein Bach, der in den Awash River mündet, dann steht man bald vor einer 5 Meter hohen Klippe“, sagt Mussi. „Die Schicht mit den Handäxten darin liegt etwas über Augenhöhe, wir haben sie sofort herausragen sehen. Es ist eine umwerfend reichhaltige Ebene, aber wir haben uns nicht zu tief damit befasst. Diese ganze Klippe ist eine archäologische Fundgrube, wir wollten sie nicht untergraben.“
Der Faustkeil ist die erste bahnbrechende Erfindung in prähistorischer Zeit. Man konnte damit Tiere schlachten und häuten, aber auch Knollen graben oder Holz hacken. Wissenschaftler und Amateurarchäologen haben Tausende von Exemplaren dieses prähistorischen „Schweizer Taschenmessers“ in englischen Ausgrabungen, in tansanischen Schluchten, auf den tibetischen Hochebenen und sogar in holländischem Lehm ausgegraben.
Unbekannte Gruppe von Humanoiden
Unsere entfernten Verwandten fertigten ihre Faustkeile bevorzugt aus leicht zu bearbeitenden Gesteinsarten wie Feuerstein oder Basalt. Das macht diesen Fund so bemerkenswert. Mussis Team sammelte 32 Handäxte aus vulkanischem Glas (Obsidian), die zwischen mehr als 550 Splittern und Scherben desselben Materials lagen. Eine unbekannte Gruppe von Humanoiden fertigte die Steinwerkzeuge in dieser Werkstatt, schreiben die Forscher im Tagebuch Naturökologie & Evolution. Die Gruppe lebte vor 1,2 Millionen Jahren in einem Gebiet, das heute Melka Kunture heißt, auf einem Hochplateau, anderthalb Autostunden von der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba entfernt, mitten am Horn von Afrika.
Obsidian ist hartes Zeug. Das vulkanische Glas entsteht aus schnell abkühlender Lava. Es hat die typisch dunkle Farbe von Basalt, ist aber spröde und bricht wie Fensterglas mit einem schalenförmigen, scharfkantigen Bruch. Das macht es für Werkzeuge und Waffen geeignet, die als Bonus großartig aussehen. Aber es zerbricht auch leicht und kann Sie verletzen. Es dauerte also eine Weile, bis Homininen etwas damit anfangen konnten. In Ablagerungen aus dem Pleistozän findet man bis auf wenige Ausnahmen kaum Gebrauchsgegenstände aus vulkanischem Glas, wie zum Beispiel eine Partie Obsidian-Faustkeile aus Kenia, die etwa 700.000 Jahre alt sind. Der neue Fund ist mindestens 500.000 Jahre älter, knapp eine Million Jahre bevor der Homo sapiens seine ersten Schritte machte.
Aufmerksamkeit fürs Detail
Steinzeitarchäologe Gerrit Dusseldorp (Universität Leiden) ist besonders beeindruckt von der Arbeit, die in Faustkeile und die Liebe zum Detail gesteckt wurde: „Als Archäologen versuchen wir, vorsichtig zu sein. Wenn ein Faustkeil so gut aussieht, schreiben wir das lieber nicht den Fähigkeiten oder der Intelligenz eines solchen Humanoiden zu. Denn wir wissen, dass bessere Rohstoffe zu besseren Werkzeugen führen. Aber man sieht, dass die Steinmetze viel Zeit und Mühe in diesen Obsidian gesteckt haben.“ Dreißig Flocken wurden aus den Handäxten aus vulkanischem Glas geklopft, um sie so schön wie möglich zu gestalten. Mussis Team fand auch Äxte aus einem weniger schönen Vulkangestein. Die Steinmetze schlagen daraus im Schnitt nur siebzehn Flocken heraus.
Mussi ist offener. „Ich möchte die Vorstellung in Frage stellen, dass Hominiden vor dem Homo sapiens Bestien waren, die dumm mit ihrer Umwelt umgegangen sind. Sie und ich wären jetzt nicht hier, wenn diese Kreaturen nicht sehr schlau wären.“ Sie erklärt, dass Melka Kunture vor 1,2 Millionen Jahren eine Überschwemmungsebene war, durch die sich der Awash River langsam schlängelte. Während der Hochwassersaison gab es, genau wie jetzt im Okavango-Delta in Botswana, einen Archipel aus kleinen Inseln. Diese Humanoiden suchten es dann weiter oben. Mussi: „Dank der Pollenanalyse haben wir ein gutes Bild von der damaligen Vegetation. Das war keine Savanne mit den typischen Sträuchern, Bäumen und Knollen, die man dort findet.‘
Afromontane Vegetation
Die Hominiden, die das Gebiet entdeckten, fanden „afromontane“ Vegetation vor, wie sie heute auf dem Kilimandscharo oder den Bergen Äthiopiens wächst. Auch die Tiere waren unterschiedlich. Fast keine Giraffen-, Elefanten- oder Krokodilarten. „Dieses Plateau war ein Paradies für Flusspferde. Überall sehen wir Nilpferde und Nilpferdknochen. Das war also neues, kniffliges Terrain für diese Hominiden. Dennoch waren sie schlau genug, sich den Herausforderungen zu stellen und hier erfolgreich zu sein.“
Woher das Rohmaterial für die Faustkeile kommt, weiß Mussi nicht genau. Während der Regenzeit veränderte ein angeschwollener Awash-Fluss seinen Lauf und grub eine noch unbekannte Obsidianschicht in das vulkanische Hinterland. Felsbrocken davon rollten durch das Flussbett und wurden von diesen Humanoiden gefunden, als das Wasser zurückging. Sie müssen sich schnell mit dem Material vertraut gemacht und neue Techniken entwickelt haben, um es zu verarbeiten.“ Die Form dieser Faustkeile bestätigt dies. Sie sind größer als üblich und haben schärfere Schneidkanten.
Diese Entdeckung passt gut zu einem veränderten Denken über die kulturelle Entwicklung anderer Homininen wie der Neandertaler. Es wird immer deutlicher, dass unsere entfernten Verwandten viel genialer waren, als man immer dachte.